Das Leben Zimmer 18 und du
er.
„Mir graut schon davor. Hoffentlich wird es diesmal besser.“
Er lächelt mechanisch, während sich der Raum wie so oft in Schweigen hüllt. Hanna ist draußen beim Rauchen. Vermutlich, um uns nicht zu stören.
Ich senke meinen Blick auf meine Beine, die lustlos von der Bettkante herunterhängen. Bilde ich es mir nur ein oder macht mich seine Anwesenheit unruhig?
„Du musst nicht jeden Tag herkommen“, sage ich schließlich.
„Wieso? Willst du mich nicht mehr sehen?“, fragt er scherzhaft.
„Ich will nur nicht, dass du dir nach Feierabend immer noch solchen Stress machst wegen mir.“
Er schweigt. Wie so oft. So wie er es immer tut, wenn er nicht weiß, was er sagen soll. In diesem Moment jedoch wird mir umso klarer, dass sich mein Verständnis für sein Verhalten schon vor langer Zeit aufgebraucht hat. All die Tränen, die ich neben ihm geweint habe und für die er so oft kein einziges Wort übrig hatte. All die Tage, an denen es mir in der Krankheitsphase meiner Familie schlecht ging und er meiner nervenaufreibenden Stimmung durch Abwesenheit oder Ignoranz aus dem Weg zu gehen versuchte.
Und jetzt? Jetzt soll allein seine Anwesenheit all das vergessen machen?
Ich mustere ihn stumm von der Seite.
Nein, er ist kein schlechter Mensch. Er hat oft versucht, auf seine Weise für mich da zu sein. Wortlos zwar, aber es war ein Versuch.
Oder?
„Ich habe dir noch Saft mitgebracht“, sagt er und zieht eine Flasche Obstsaft aus der Tüte.
„Oh, super.“ Ich lächle, während sich das schlechte Gewissen in mir breitmacht.
Er versucht es. Ja, er versucht es wirklich. Trotzdem spüre ich, dass irgendetwas in mir nach all den Jahren müde geworden ist.
Bemüht er sich so um mich, weil meine Traurigkeit, meine Trägheit, endlich einen Namen bekommen hat? Weil das Wörtchen depressiv, das plötzlich auf meiner Stirn zu stehen scheint, endlich eine Erklärung für all meine Tränen ist?
Trotzdem macht es mich traurig, dass es erst eine Krankenhauseinweisung braucht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Wollen wir noch ein bisschen spazieren gehen?“, frage ich.
„Warum nicht?“ Er presst die Lippen zu einem schmalen Grinsen zusammen.
Ich schäle mich von der Bettdecke und schleiche zum Kleiderschrank, um meinen Mantel herauszuholen.
Du hast ihn lieb, Nancy, rede ich mir selbst schweigend zu. Er ist ein Mann und Männer sind mit zu vielen Emotionen schnell überfordert.
Doch die Enttäuschung der letzten Monate wiegt schwer.
„Wir können ja wieder den Weg über den Parkplatz nehmen“, schlägt er vor.
„Gute Idee“, murmele ich.
Ich ziehe meine Handschuhe über, während mein Blick auf die Saftflasche neben dem Bett fällt. Ein simples Mitbringsel, das mich rührt.
Er ist dein Mann. Trotz allem. Und du bist ihm Treue schuldig.
„Wollen wir?“, frage ich leise.
„Ja. Lass uns gehen.“
*
Das Monster im Kopf. Wie unzählige Male zuvor stechen mir die vier unscheinbaren Worte ins Auge. Monate ist es her, dass ich die Datei nach dem Tod meiner Mutter von ihrem PC auf mein Netbook gezogen habe. Doch bisher ist es mir nicht gelungen, sie zu öffnen.
Wieder schieben sich die Worte unserer Therapeutin in meinen Sinn. Stellen Sie sich Ihren Ängsten! Verarbeiten Sie traumatische Erinnerungen, anstatt vor Ihnen davonzulaufen.
Ein gut gemeinter Ratschlag. Vielleicht sogar ein lebenswichtiger. Doch hier am kleinen kreisförmigen Tisch direkt am Fenster meines kalkweißen Zimmers scheint es schwer, ihn zu befolgen.
Meine Mutter hat oft von den tagebuchartigen Einträgen erzählt, die sie seit der Diagnose meines Bruders verfasst hat. Teilweise, um die schlimme Zeit selbst zu verarbeiten, teilweise wohl auch, um den langen Weg bis zur Heilung zu dokumentieren. Dass weder Martin eine Heilung vergönnt sein würde noch ihr selbst, wusste sie zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Viel schlimmer: sie ahnte damals noch nicht einmal etwas von ihrer eigenen lebensbedrohlichen Krankheit.
Und jetzt? Ist der Schmerz wirklich schon blass genug, um sich ihm zu stellen?
Ich schlucke.
Mit aller Kraft verdränge ich die letzten zermürbenden Gedanken und öffne die Datei mit dem ersten Eintrag.
Das Monster in seinem Kopf oder Vorhof zur Hölle
- Gedanken einer Mutter -
Ende Juni 2010
Seit Tagen war es siedend heiß. Obwohl ich normalerweise nicht unter Schweißattacken leide, rinnt mir der Schweiß in Bächen herunter.
Ein Anruf von unserem jüngsten Sohn, der seit 2 Jahren – endlich
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