Das Leben Zimmer 18 und du
– mit damals fast 28 Jahren – in einer eigenen Wohnung lebt. An den Wochenenden legt er als DJ auf und da seine Musikanlage aus Platzgründen noch in unserem Haus deponiert ist, organisiert er es vor Auftritten so, dass er sich bei Muttern noch schnell zum Mittag einlädt. Na, so lange es nicht jedes Wochenende ist, hat man als Eltern kaum etwas dagegen einzuwenden, denn nach Aussagen der Kinder schmeckt es zu Hause immer noch am besten. Da ich ihn auch schon einige Wochen nicht sah, freute ich mich sogar.
Pünktlich zum Mittag tauchte er auf. Mir fiel sein merkwürdiger Gang auf der Treppe auf. Die Stufen wurden nicht im Wechselschritt genommen, sondern mit dem linken Bein zuerst.
„ Hast du dich verletzt, Martin?“ war meine erste Frage.
„ Nein, es ist nichts, Mama, ich hab nur so ein lästiges Kribbeln im linken Bein.“
Das klang nicht weiter beunruhigend und da ich noch nie so eine überbesorgte Mutter war, die ihre Kinder ewig „begluckt“, gab ich mich mit der Antwort zufrieden.
Wir sprachen so über dieses und jenes, alltägliche Kleinigkeiten eigentlich. Dabei hatte er Schwierigkeiten, alle Worte zu finden und brach oftmals mitten im Satz ab.
„ Ist alles okay?“
„ Ja, Mama, du nervst!“
Mir kam die ganze Sache schon beunruhigend vor, aber allzu viel fragen bringt auch nichts, dann schalten die Kinder schnell auf stur. Vielleicht hatte er Ärger gehabt mit seiner Freundin oder anderen Stress?
Ich fragte also nicht weiter nach.
Es dauerte nicht lange und er packte seine benötigte DJ-Ausrüstung ins Auto und verschwand. Die Feier, bei der er auftreten sollte, fand in einem Zelt statt. Na, das konnte ja heiter werden bei der Hitze!
Am nächsten Tag rief er mich an, dass er dort mit dem Fuß umgeknickt und kurz umgefallen wäre.
„ Warst du schon beim Arzt mit deinen Beschwerden?“
„ Ja, war ich, sie meint, das hätte psychische Ursachen und der Meinung bin ich auch. Momentan ist mir alles zu viel. Ich denke mal, ich leide zurzeit an einem Burn-Out.“
Dass er von der Psyche her nicht der Belastbarste ist, war mir bekannt.
Zu meinem Mann meinte ich besorgt: „Mir gefällt der Martin momentan überhaupt nicht!“.
Er: „Meinst du?“ Ich: „Ja, er spricht so schlecht und auch das Gehen klappt irgendwie nicht! Kann mir nicht vorstellen, dass das nur psychische Störungen sind!“
Ich schließe die Datei, bevor ich weiterlesen kann. Tränen verschleiern meinen Blick.
Ich erinnere mich an das Telefonat mit Martin, in dem er mir selbst von seinem Sturz hinter dem DJ-Pult erzählte. Wie lange das mittlerweile her ist. Und wie viel seitdem passiert ist.
Doch trotz der Tränen (oder gerade wegen ihnen) spüre ich, wie ein vollkommen neuer Drang in mir wach wird. Der Drang, sich der Vergangenheit zu stellen. Die Art, in der sie die Einträge verfasst hat, der Wechsel zwischen den Zeitformen und all die Emotionen, denen sie sich darin hingibt, machen deutlich, dass sie die Zeilen mehr oder weniger nur für sich selbst geschrieben hat. Und doch überkommt mich der Eindruck, dass sie die Worte an mich richtet.
Nach einem kurzen Zögern öffne ich die Datei erneut.
Mitte Juli 2010
Er rief so selten an und so suchte ich – ganz entgegen meiner Art - den telefonischen Kontakt zu ihm. Drängte immer wieder mit der Frage, ob er noch einmal bei der Ärztin war.
„ Ja, ich habe jetzt auch in der psychiatrischen Klinik nachgefragt und bekomme für Ende August einen Platz in der Tagesklinik.“
Ende August? Wir hatten Mitte Juli! Das dauerte mir einfach zu lang. Wie war sein körperlicher Zustand gegenwärtig überhaupt? War eine Besserung eingetreten? Dem Sprachvermögen nach nicht wirklich!
Dienstag, der 27. Juli 2010
Meine Tochter – seine Zwillingsschwester – fuhr mit ihm noch einmal zur Ärztin, weil seine Beschwerden nicht besser wurden. Diese unternahm nichts! Gar nichts.
Abends rief mich meine Tochter an und teilte mir mit, dass sie mit ihm gemeinsam dort war.
Wiederholt hatte ich ihr am Telefon und auch persönlich gesagt, dass mich der Gesundheitszustand ihres Bruders mehr als beunruhigt. Dann bekam ich zur Antwort, ich würde alles immer dramatisieren. Er ist eben seelisch nicht schwer belastbar und bald würde er ja in der Klinik aufgenommen.
Wo haben sie alle ihre Augen??? Sehen sie denn nicht, dass es ihm nicht gut geht? Meine Fürsorge ist gewiss nicht übertrieben. Aber die Jugend winkt ja nur ab.
Wieder überkommt mich das Verlangen, die Datei zu
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