Das Leben Zimmer 18 und du
ich noch einen langen Weg vor mir habe“, sage ich. „Aber ich weiß auch, dass es nicht besser werden kann, wenn man nicht darüber redet. Da braucht es schon ein bisschen mehr als nur das Alter und die Diagnose, um sich und seine Geschichte vorzustellen.“
„Eben. Ich hoffe, die anderen Patienten werden das auch noch begreifen. Deshalb war ich ja auch so froh, dass jemand wie du in der Runde dabei ist.“
Er senkt den Kopf zur Seite wie bei unserer letzten Begegnung. Wieder derselbe eindringliche Blick aus eisblauen Augen. Wieder dasselbe wissende Lächeln. Und doch nicht ein Hauch von Anzüglichkeit.
„Aber ich staune trotzdem“, sage ich.
„Worüber?“
„Über dich.“
„Was gibt’s denn da zu staunen?“
„Na ja, du hast so viel Scheiße durchgemacht“, antworte ich. „Und du strahlst trotzdem so viel Zuversicht aus. Das ist wirklich …“, ich suche nach den richtigen Worten, „… beeindruckend.“
„Beeindruckend?“
„Ja.“ Ich lächle. „Beeindruckend.“
„Ich bin eben der Meinung, dass man immer nach vorn schauen sollte, egal, wie tief man in der Scheiße steckt.“
„Wenn man das kann …“
„Es ist nicht immer leicht, auch für mich nicht.“ Sein Blick wird nachdenklich. „Sonst wäre ich ja nicht hier.“
Ich schaue über den Flur zu seiner Station herüber.
„Abhängigkeitsstation“, murmele ich.
„Das war meine Art, mich zu beruhigen“, sagt er.
„Alkohol?“, frage ich.
Er nickt. „Ich trinke zwar auch hin und wieder ganz normal mein Bierchen mit Freunden oder auch wochenlang gar nichts. Aber als es mir so schlecht ging“, er stockt kurz, „na ja, da wurde es dann das eine oder andere Bier mehr.“
„Verstehe.“
„Das Problem ist, dass man mich bisher immer als Alkoholiker bzw. Gelegenheitsalkoholiker behandelt hat und ich immer wieder versucht habe, den Ärzten klarzumachen, dass das Problem in meinem Kopf liegt.“
„Depressionen“, entgegne ich knapp.
„Ganz genau. Ich war vorher schon zweimal hier und jetzt endlich haben sie begriffen, was meine wahre Krankheit ist und mir Antidepressiva verschrieben.“
„Und seit wann nimmst du sie?“
„Seit ca. drei Wochen.“
Ich suche erneut seinen Blick. Auch wenn es kein schönes Thema ist, über das wir reden, spüre ich doch, wie sich meine trüben Gedanken von Minute zu Minute auflösen. Irgendetwas an ihm lässt das Gefühl von Normalität in mir zurückkehren.
„Und wirken die Tabletten?“, frage ich.
„Ich denke schon“, antwortet er. „Es geht mir jedenfalls schon sehr viel besser als bei der Einweisung.“
„Bei mir schlagen sie auch langsam an.“
Er antwortet mit einem wortlosen Lächeln.
Ich spüre, wie meine Hände feucht werden, während ich meinen Teebecher fester umklammere. Er hingegen trinkt seinen Kaffee in einer Lässigkeit, als wären wir zwei Fußballfans am Spielfeldrand, die sich über das letzte Tor unterhalten. Zwei Bekannte, ein Thema – mehr nicht.
Aber ist es wirklich nur das? Warum spüre ich dann diesen Draht? Diese ganz besondere Bindung zwischen uns, die selbst dann spürbar ist, wenn wir uns über Belanglosigkeiten unterhalten? Eine Bindung, wie ich sie bisher mit keinem der Patienten auf meiner Station oder der Depressionsrunde empfunden habe?
„Ich finde es nur so schade, dass man mit dieser Krankheit so oft missverstanden wird“, fahre ich nach einer Weile fort.
„Es nimmt eben niemand richtig ernst, solange sie die Krankheit nicht selbst kennen.“
„Und dann immer diese unpassenden Vergleiche, wenn man erzählt, was einen in diese Situation gebracht hat. Wenn ich z.B. von der Krankheit und dem Tod meines Bruders und meiner Mutter rede und dann immer als Antwort ein Bandscheibenvorfall oder so was kommt. Sicher ist das auch schlimm, aber es hat eben nichts mit dem zu tun, was wir erlebt haben. Man hat einfach immer das Gefühl, nicht verstanden zu werden und sich sogar rechtfertigen zu müssen. Und dann würde ich am liebsten“, ich halte kurz inne, „denjenigen ordentlich durchschütteln.“
Bastian lacht. „Das Gefühl kenn ich. Was meinst du, warum ich boxe?“
„Du boxt?“
„Ja klar. Alle möglichen Arten von Sport. Ich liebe es, an meine Grenzen zu gehen und mich so richtig auszupowern. Das brauche ich, um mich lebendig zu fühlen.“
„Genauso geht es mir mit dem Schreiben.“ Ich lehne mich an die Wand neben der Eingangstür, während sich mein Blick verklärt. „Wenn ich schreibe, kann ich in eine völlig andere
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