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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cédric Villani
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Friedens
    In meinem hintersten Amerika
    Träumte ich von meinem Satelliten,
    Der nicht gut auf meine Umlaufbahn passte –

Catherine Ribeiro

Kapitel 29
    Princeton, 20. April 2009
    Mit seiner Tasse Tee in der Hand kehrt sich der alte Mann mir zu und schaut mich mit durchdringendem Blick an, ohne ein Wort zu sagen, sichtlich verwirrt durch den ungewöhnlichen Stil meiner Kleidung.
    Ich bin es gewohnt, Leuten zu begegnen, die durch meinen Anzug und meine Spinnenbrosche irritiert oder aus der Fassung gebracht werden. Gewöhnlich betrachte ich sie mit amüsiertem Wohlwollen. Aber dieses Mal bin ich zumindest genauso eingeschüchtert wie mein Beobachter. Er ist John Nash, vielleicht der größte Analytiker des Jahrhunderts, mein mathematischer Held, geboren im Jahre 1928. Er hat keine Fields-Medaille bekommen, und diesen Misserfolg hat er jahrzehntelang immer wieder bitter an sich vorüberziehen lassen. Er hat zwar den Wirtschaftsnobelpreis für seine Jugendarbeiten über die »Nash-Gleichgewichte« erhalten, die ihn in der Spieltheorie, der Ökonomie und Biologie berühmt gemacht haben. Aber das, was er anschließend gemacht hat, ist für die Kenner noch viel außergewöhnlicher: Das verdiente eine, zwei, drei Fields-Medaillen.
    1954 führte Nash die nichtglatten Einbettungen ein, Monstrositäten, die Unmögliches möglich machten, wie z.B. einen Tischtennisball zu zerknüllen, ohne ihn zu verformen, oder einen vollkommen flachen Ring zu konstruieren. Das konnte nicht wahr sein, und es war doch wahr , hat Gromow gesagt, der Nashs geometrisches Werk besser verstanden hat als irgendjemand auf diesem Planeten und auf dessen Grundlage er die ganze Theorie der konvexen Integration entwickelt hat.
    1956 beweist Nash, der eine Herausforderung seines ungläubigen Kollegen Ambrose annahm, dass alle abstrakten Geometrien von Fürst Riemann – dem Chopin der Mathematik – sich konkret realisieren lassen. Auf diese Weise verwirklicht er einen beinahe hundert Jahre alten Traum.
    1958 beweist Nash, als er auf eine von Nirenberg gestellte Frage antwortet, die Regularität der Lösungen der linearen Parabelgleichungen mit messbaren elliptischen Koeffizienten – die raumzeitliche Kontinuität der Wärme in einem völlig heterogenen Festkörper. Das ist der Beginn der modernen Theorie der partiellen Differentialgleichungen.
    Das Schicksal wollte es, dass das klösterliche Genie Ennio De Giorgi letzteres Problem zur gleichen Zeit wie Nash durch eine völlig andere Methode löste; aber das schmälert Nashs Verdienst überhaupt nicht.
    Nash ist einer der seltenen lebenden Wissenschaftler, der zum Helden eines Hollywoodfilms wurde. Ich habe den Film zwar nicht besonders gemocht, aber die Biographie, auf der er beruht. John Nash, a Beautiful Mind .
    Wenn Nash Hollywood auf sich aufmerksam gemacht hat, dann nicht nur wegen seiner mathematischen Heldentaten, sondern auch wegen seiner tragischen Geschichte. Mit 30 Jahren glitt er in den Wahnsinn ab; er hat sich fast dreißig Jahre lang in Anstalten aufgehalten, bevor er in den Fluren von Princeton als mitleiderregendes Gespenst herumgeisterte.
    Und Nash ist von den Gestaden des Wahnsinns zurückgekehrt. Jetzt ist er mit über 80 Jahren so normal wie Sie und ich.
    Außer dass über ihm eine Aura schwebt, die weder Sie noch ich besitzen, Zeugnisse phänomenaler Leistungen, Geniestreiche und eine Art und Weise, Problemen auf den Grund zu gehen und sie zu analysieren, die Nash zu einem Vorbild für alle modernen Analytiker machen, und an erster Stelle für mich.
    Der Mann, der mich fixiert, ist viel mehr als ein Mensch, er ist eine lebende Legende, und an diesem Tag habe ich nicht den Mut, zu ihm zu gehen, um mit ihm zu sprechen.
    Das nächste Mal werde ich es wagen, ihn anzusprechen, und ich werde ihm erzählen, wie ich einen Vortrag über das Paradoxon von Scheffer–Shnirelman gemacht habe, nämlich anhand eines Beweises, der von seinem Theorem der nicht-glatten Einbettung inspiriert ist. Ich werde ihm von meinem Projekt erzählen, einen Vortrag über ihn in der Bibliothèque Nationale von Frankreich zu halten. Ich werde ihm vielleicht sogar sagen, dass er mein Held ist. Wird er das lächerlich finden?
    *
    1956 in New York öffnet ein großer Kerl die Tür eines strengen Betonblocks, auf dessen Fassade zu lesen steht Courant Institute of Mathematical Sciences. Sein stolzer Gang steht nicht viel dem von Russell Crowe nach, der ihn ein halbes Jahrhundert später in Hollywood verkörpern wird.

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