Das leere Land
heiterem Himmel verschwunden war. Der Vater hatte böse geknurrt, als ich ihn nach ihrem Verbleib fragte, und hatte sich vor den Fernseher gesetzt. Nach einer halben Stunde ging ich hinunter zum Spielen, oder vielmehr, wollte es. Im Vorzimmer sah ich beim Anziehen der Schuhe ihre Füße und Unterschenkel, standen auf einem Schemel hinter dem Kleiderständer, auf dem die Jacken und Mäntel hingen, sie selbst hinter den Kleidungsstücken verborgen. Ich stand und sah auf ihre grobwollig bestrumpften Füße und Unterschenkel, die sich nicht bewegten. Was sie da tue, fragte ich nach einer endlos langen Pause. Nichts, sagte ihre Stimme hinter den Mänteln. Ob sie Verstecken spiele, fragte ich. Nein, sagte sie. Kommst du heraus?, sagte ich, gleich, sagte sie, nur noch ein Weilchen. Geh du einmal hinunter zum Spielen. Und ich ging hinunter, spielte aber nicht, sondern plagte mich mit dem Gefühl herum, etwas Schlimmes getan zu haben, dass sie veranlasst hatte, sich in der eigenen Wohnung vor mir zu verstecken.
Ich bin nicht schuld, dachte ich an ihrem Bett in der Psychiatrie. Ihr Bruder, der Mann mit meinem Namen, in Granit gemeißelt auf dem Kriegerdenkmal in dem Dorf, das ich so lange gemieden habe, ist schuld. Seine Schuld ist, gestorben zu sein mit achtzehn Jahren, in Detmold, für unsere Freiheit. Sie hatte alles vor sich gehabt, ein ganzes Leben. Der Freund ihres Bruders, Robert, Sohn reicher Eltern, war das Leben gewesen, das auf sie wartete, prall von versprochenem Glück und Erfüllung.
Dann verloren sie den Krieg, und Robert ging zurück nach München, dann starb ihr Bruder, der die eigentliche Verbindung zwischen ihr und Robert gewesen war. Dann verschwand Robert aus ihrem Leben, und damit ihr Leben. Sie bekam nicht alles, wie sie es erwartet hatte, sondern nur ein kleines, flaches Ersatzleben. Das war schuld. Nicht ich.
Ich war so verwirrt, sagte sie unvermittelt. Ich habe nicht mehr gewusst, was ich tue. Mir ist auf einmal der Satz durch den Kopf gegangen, dass alles besser ist als das hier, sogar das Sterben.
Natürlich ist Sterben eine Möglichkeit, sagte ich. Aber es ist unfair gegenüber denen, die noch nicht gestorben sind.
Du bist mir nicht böse?, fragte sie und sah aus, als ob sie wieder weinen wollte.
Natürlich nicht, sagte ich.
Ich tu es eh nicht mehr, flüsterte sie, ohne mich anzusehen, und ergriff meine Hand. Was ich nicht aushielt, gleich stand ich auf und sagte, dass mich ein Arzt sprechen wolle, was gelogen war. Weil Hände dazu da sind, wegzuwischen und nicht um zu halten.
58
Oshige Wakon, das Otterherz, hetzte durch die Wälder im Anishinaabe-Land auf der Flucht vor seinen Bräuten. Gleich zwei waren es, Matchi-kwe und Ochki-kwe. Kwe heißt Weib. Matchi heißt böse. Ochki heißt jung, frisch, gut. Der einsame junge Krieger Otterherz war durch die Welt gezogen auf der Suche nach anderen Menschen, um dem Alleinsein zu entkommen, hatte ein Volk getroffen, hatte sich in die junge frische, also die gute Tochter des Clanältesten verschaut, Ochki-kwe. Er kann sie haben, hatte der Alte gesagt, aber er muss auch Matchi-kwe zur Frau nehmen, die böse Schwester. Da befiel den jungen Mann eine große Furcht, und er verdrückte sich mit einer blöden Ausrede aus dem Lager des Clans, der bereit gewesen wäre, ihn aufzunehmen.
Kleine, schmutzige Fantasiegeschichten krochen während des Lesens in Kohls Buch von den Großen Seen durch meinen Schädel, Mishi Bizhi immer die Hauptfigur, sie huschte in mein Bett, sehnig, flink und unglaublich warm, tagträumte ich, schmiegte sich an mich, zittrig und hitzig ihre Haut unter einem seidig dünnen Hemdchen, das dürfen wir nicht, war alles, was mir dazu einfiel, sie wolle nichts, sagte sie, nur ein wenig sich an jemanden anschmiegen, jemanden spüren, ich auch, ich auch, schrie es in mir, und dann ließ ich in meiner Träumerei meine Altmännerfinger über ihre Wange flattern, und über ihren Nacken, den Bogen ihres Rückens hinunter, bis die Finger das Ende der Seide erreichten und noch zittriger wurden auf ihrem weichen Fleisch.
Gleich war sie wieder da, die Angst vor allem Geschlechtlichen. Hast mich nicht vergessen, böser, alter, hartnäckiger Würgeengel. Es war wegen der Zisterzienser, ihrem Gezische zu uns Knaben: Kalt duschen! Kalt duschen, das war ihr Rezept im Falle von unkeuschen Gedanken. Sie hatten es mir eingebläut, wie jedem einzelnen Zögling Jahr um Jahr, dass die Selbstbefleckung eine der wirkungsvollsten Versuchungen des Leibhaftigen
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