Das leere Land
angerufen, als ihr mulmig wurde. Als die Rettungsfahrer kamen, war sie noch bei Bewusstsein, wenn auch sehr verwirrt.
Ich muss die Nacht und den Morgen nicht beschreiben. Nur so viel: Ich fasste einen Entschluss. Neuer Entschluss, neuer Plan. Ich werde sie zwingen, zuzugeben, dass sie etwas fühlt, auch sie. Ich werde sie zwingen, mir zu zeigen, was sie fühlt. Schließlich hat sie mich gezwungen zu Gefühlen, immer schon, und gerade jetzt eben mit einer Handvoll Tabletten. Angst, Schrecken, Verlassenheit. Sie muss mir die wahre Geschichte erzählen von dem Mann mit meinem Namen. Sie muss Geständnisse ablegen. Sie muss gestehen, alles. Muss heulen und klagen und herausschreien, was ich mit ihrem nicht gelebten Leben zu tun habe.
Den nächsten Vormittag über tippte ich dahin, von Odoaker und Orest und Westrom und Ostrom fabulierte ich im Katalogtext, ohne an meinen Widerwillen gegen diese Geschichte überhaupt zu denken. Trixi rief mich an, ohne Anlass, ohne etwas von mir zu wollen, einfach so, sagte sie, sei bloß ein Nachfragen, wie es mir gehe. Das hätte mich irritieren sollen. Ein scheues verwildertes Luchsweibchen sollte kein Männchen, das vierzig Jahre älter ist, einfach so anrufen. Für Irritation war aber kein Platz, die Vorbereitung auf die Fahrt in die Nervenklinik hatte alles okkupiert.
Wie geht’s voran?, sagte sie.
Was?
Deine Arbeit.
Nicht gut, sagte ich, und dass ich in der Geschichte festzustecken begänne, weil ich nicht fähig sei, das Zusammenstürzen einer Welt zu beschreiben, zu schildern, zu bebildern. Sag mir, wie deine Welt untergegangen ist, sagte ich zu Mishi Bizhi, verständnisloses Schweigen ihrerseits, du bist doch aus dem Kosovo, sagte ich, du musst den Krieg noch bewusst miterlebt haben, oder?
Ich bin aus Wesenufer, schnaubte sie verächtlich.
Um dreizehn Uhr fuhr ich los, rollte pünktlich um halb zwei zum Beginn der Besuchszeit auf den Krankenhausparkplatz.
57
Fahl und faltig ihr Gesicht auf dem Krankenhauskopfpolster, urgesteinsalt sah sie aus im kalten Licht der Energiesparröhren, und zugleich hilflos, verängstigt und ihrer selbst ungewiss wie ein Backfischkindchen vom Bauerndorf, das es in die abweisende desinteressierte Stadt verschlagen hat. Die Haut des linken Lids glänzte, auch die Braue und ein großer Flecken ihrer Stirn darüber, wie wenn jemand sie eingeschmiert hätte mit Stauferfett. Sieh mich nicht an, wisperte sie, ich bin gestürzt und habe mir den Kopf angeschlagen am Sessel. Die Salbe, mit der sie das eingecremt haben, kommt mir immer wieder ins Auge.
Warte, sagte ich, ich habe ein Taschentuch.
Ich weiß nicht, warum ich es getan habe, flüsterte sie, obwohl ich gar nicht gefragt hatte, warum sie es getan hatte.
Musst du nicht sagen, sagte ich.
Du darfst nicht böse sein, weil ich nicht mehr leben habe wollen, sagte sie.
Red nicht so was.
Es ist mir einfach zu viel. Oder eigentlich – zu wenig. Es ist nur noch eine Anstrengung. Ich mag nicht mehr.
Es ist, weil sie so viel allein ist, dachte es in meinem Kopf vor sich hin, mit maschinenhafter Verlässlichkeit begannen Schuldgefühle zu rattern, sie ist allein, weil alle gestorben sind, zwei Halbbrüder im Ersten, zwei Brüder im Zweiten Großen Krieg, der dritte Bruder einen Monat nach Ende des Krieges, der Vater ein Jahr später, die Mutter, die gesuchte Zähnereißerin, nicht einmal ein Jahrzehnt später. Der Ehemann vor ein paar Jahren. Nur der Sohn lebt noch, aber der ist geflüchtet, hat den Kontinent verlassen, hat einen Ozean zwischen sich und sie gebracht, damit er sie nicht fragen muss, damit sie nicht erzählen kann, gefragt oder ungefragt. Der Sohn bin ich. Darum ist sie allein, darum will sie nicht mehr.
Dann begann sie zu weinen, auf eine seltsame Art, vollkommen abgewandt von mir, als wollte sie alles, alles verbergen, als dürfte ich nichts von ihr sehen, zugleich aber war ihr Hinterkopf, ihr zusammengedrücktes, verschwitztes Haar, wie es ganz leicht wippte von ihrem Schluchzen in den Polster, von einem unerträglichen Entblößtsein. Leer und bloß lag sie unter dem Laken. Immer hat sie sich versteckt, jedoch so, dass jeder sah, dass sie versteckt war und damit jeder gezwungen war, sie wahrzunehmen.
Wir schwiegen. Im Dasitzen und Schweigen drehte sich plötzlich alles um. Sie war es gewesen, die mich im Stich gelassen hatte. Aber jetzt fühlte es sich auf einmal an, als sei ich derjenige, der im Stich lässt. Wie damals in der schäbigen Kleineleutewohnung, als sie aus
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