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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Besucher davon abzuhalten, Originalgestein aus der Mauer zu brechen. Als die Dämmerung im Kinderzimmer überging in Dunkelheit, begann ich mir Sorgen zu machen um meine Mutter. Hörte gleich wieder auf damit. Sie hat nicht für mich gesorgt, also werde ich mich nicht um sie sorgen.
    Ich hatte einen Entschluss gefasst und einen Plan entwickelt. Der Plan sah vor, dass ich sie zwingen würde, mir zu sagen, warum sie mich nach ihrem Bruder benannt hatte, der in Detmold gestorben war für unsere Freiheit . Danach würde ich dieses Land, das für meine Ansprüche nie leer genug sein würde, verlassen. Für immer. Oder zumindest für so lange, wie sie noch am Leben sein würde.
    Ich würde dem Sprecher meiner Auftraggeber den fertigen Text für den Katalog zur Doppellandesausstellung mailen, würde dabei das bestätigte Flugticket Linz–Frankfurt–Toronto, one way, auf dem Schreibtisch liegen haben und während des ganzen Telefonats mit den Fingern darüberstreichen. Es würde ein angenehmes Gefühl sein. Dann würde ich die paar Tage bis zum Eintreffen der Honorarzahlung auf meinem österreichischen Konto abwarten und die Summe in bar beheben. Ich würde mich in aller gebotenen Kürze von ihr verabschieden. Ich würde ihr sagen, dass ich erst zu ihrem Begräbnis wieder nach Österreich kommen werde. Das war die Schwachstelle meines Planes. Ich befürchtete, diesen Satz nicht aussprechen zu können. Ich werde erst wieder kommen zu deinem Begräbnis. Eine andere Formulierung für so ein Versprechen fiel mir nicht ein. Vielleicht würde es genügen, wenn ich ihr nur einfach drei Worte sagte, ich komme wieder, und vielleicht verstünde sie ja, was ich meinte, ohne dass wir weiter darüber reden müssten.
    Meine Arbeit am Katalogtext geriet ins Stocken, je näher sie dem Ende kam. 476 nach Christi Geburt war die Hürde, an der ich zu scheitern drohte. Odoaker, Skirenfürst, jetzt Herrscher auf dem italischen Thron, hatte Glanz und Ruhm Roms beendet. Orestes, Vater des letzten Kaisers Romulus Augustulus, der eigentliche Herrscher, Freund des Severinus und laut Giese einst Kollege des Heiligen Mannes als Vertreter Roms in Attilas Hunnenresidenz, war ermordet auf des Skiren Geheiß, das Kaiserlein Romulus verbannt. Und was tat Severinus? Nichts. Oder: Man weiß es nicht. Er schien Einfluss und Gewicht behalten zu haben, er schien Odoakers Vertrauen zu genießen, er schien sein ganzes nicht irdisches Vermögen und seine Erfahrung und seine Zauberkraft und sein Wissen um das Menschenmanipulieren einzusetzen zwecks Ruhigstellen der Untergehenden.
    Mich ödete die Geschichte an. Die Geschichte Westroms, die Geschichte des Heiligen Mannes, die Geschichte des SS -Mannes mit meinem Namen. Nicht mehr wollte ich die Geschichten schichten, Schicht um Schicht, auf dass sie einander durchdrängen und die feinen Gespinste und Verbindungsfäden sichtbar würden. Auf dass sich die scheinbar zusammenhanglosen Ereignisse aus den verschiedensten Zeiten und Gegenden übereinander schöben, bis sie, endlich zur Ruhe gekommen, ein Gebäude bildeten, das aussah, als hätte es ein Architekt geplant, der weiser schien als ich, der tatsächliche Schichter der Geschichten. Es gab aber keine Fäden und Gespinste. All das Geschichtete war nicht mehr als ein zufällig und achtlos aufgetürmter Haufen Müll. Nichts Getanes war größer als das Tun. Das Land, das doch leer sein sollte, war übervoll.
    Oh könnte ich nur so leicht und locker erzählen wie die Meister aus Duluth und Brno, tippte ich in den Laptop, könnte ich wie sie einfach alles, was sich findet, kurz und spielerisch einmal durcheinanderschütteln und es hinwerfen, auf dass es sich füge zur Form, die die einzige und selbstverständliche ist. Könnte ich dieses unverständliche Untergehen des römischen Imperiums, das sich mir nicht erschließen wollte, und wie sollte es sich erst den Lesern des Katalogtextes erschließen, nehmen und daran rütteln, bis zum Zerfallen, und die Brocken leichthändig und elegant aufschichten zu verblüffender Einfachheit.
    Doch es ist zu verwirrend. Es war gar kein Untergang. Es befand sich bloß ein anderer Kaiser an der Spitze. Der Skire Odoaker, der von sich selbst nie ein anderes Bild hatte als das eines Germanen in römischen Diensten, und der sein Herrschen über Italien als eines unter dem oströmischen Kaiser Basiliscus in Konstantinopel verstand, oder war es unter Zeno, der war der legale Ost-Kaiser, Basiliscus nur ein Gegenkaiser. Alles wird gleich

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