Das leere Land
verwirrend, klagte ich bei einem Telefonat mit dem Sprecher meiner Auftraggeber, und sagte dann: Dem Odoaker ist sein Reich mit der größten Selbstverständlichkeit ein Teil des Imperium Romanum. Genauso sah es sein Nachfolger, der große Theoderich, der sich ausdrücklich um Ostroms Anerkennung seiner Herrschaft über Westrom bemühte. Man kann nicht einmal sagen, Odoaker wäre der erste nicht-römische Regent gewesen, da waren doch davor schon andere nicht-römische Herrscher, sagte ich, für dich und mich hat sich nichts geändert, also, für den kleinen Mann auf der Straße. Die Germanen haben Rom nicht erobert, sie haben es einfach und unspektakulär übernommen.
Dies ist jetzt bloß eine Mutmaßung Ihrerseits, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber.
Natürlich. Und das macht es ja so verwirrend. Nichts als Mutmaßungen. Man kann nicht mehr tun als die verschiedenen Quellen hernehmen und sich etwas zusammenreimen. Das führt aber nicht zu Erklärungen.
Wozu braucht es Erklärungen, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber. Lesen Sie Kassner! Eine Geschichte ist so lange wahr, wie man nicht versucht, sie zu erklären, schreibt Kassner. Scheint mir ein hoch praktikabler Zugang zu sein. Insbesondere im Falle Ihres Aufsatzes, der ja nicht die Funktion hat, auf irgendeine Art und Weise mehr Licht in das Dunkel der Historie zu bringen als es die Generationen von hochverdienten Gelehrten vor Ihnen zustande gebracht haben. Lesen Sie Kassner, und halten Sie sich an Eugipp.
Das Stück Weltgeschichte des Jahres 476, der Untergang Roms, ist in Eugipps Darstellung verblüffenderweise nicht mehr als eine Nebensächlichkeit, wird als eigenes Ereignis nicht einmal erwähnt, ist wie immer bloß eine Folie, vor der sich die Großartigkeit seines Heiligen Mannes herausstreichen lässt. Per idem tempum, quo Romanum constabat imperium, zu der Zeit, als das Römische Reich noch bestand, mit diesem Halbsatz in Kapitel zwanzig leitet Eugipp die Auflösung Noricums ein, schildert in der Folge Wunder um Wunder, mit denen Severinus die Not und Bedrängnis der tiefst verzagten Romanen linderte, und klotzt dann zwölf Kapitel später ohne jede Erklärung und Vorbereitung den nächsten diesbezüglichen Halbsatz in seinen Text, jenen, aus dem hervorgeht, dass Westrom zu existieren aufgehört hat: Isdem temporibus Odovacar rex sancto Severino familiares litteras dirigens. In dieser Zeit richtete König Odoaker einen freundschaftlichen Brief an den heiligen Severinus. Das war alles. Der Germane war Beherrscher Roms geworden, und Eugipp verliert auf dem Dutzend Seiten zwischen den beiden Sätzen kein Wort darüber. Wie sollte er auch – war doch dann, als Eugipp seinen Text schrieb, der Germane Theoderich der Beherrscher seiner Welt.
Es interessierte mich nicht, wie Reiche untergehen, das ist die Wahrheit. Zitieren Sie Giese, riet der Sprecher meiner Auftraggeber, verkaufen Sie den ersten Satz seines Buches als vollkommenen und endgültigen und kürzestmöglichen Ausdruck dieser gewaltigen Ereignisse. Ich muss die Nacht und den Morgen beschreiben, an dem die Welt zusammenstürzte. Was für ein Satz. Was für ein kühner Einstieg in ein kühnes Buch!
Ich habe vor, Giese zu zitieren, antwortete ich, so kurz angebunden, dass er meinen Unwillen bemerken sollte.
Natürlich wissen wir, dass es ein kleiner Schwindel ist, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber, und ich stellte mir vor, wie sich dabei sein Mund an seinem Handy zu einem Schmunzeln verzog, Giese meint mit diesem Satz den Fall und Tod Attilas und nicht den Untergang Roms, ja, aber so eine kleine Schwindelei wird die Unkundigen nicht stören und die Kundigen freuen, denken Sie nicht? Ich gab ihm recht und legte auf.
Das Festnetztelefon klingelte um halb zehn. Ich hob ab. Ob ich ein Verwandter der Inhaberin dieses Anschlusses sei, fragte eine Frauenstimme. Ja, sagte ich, der Sohn. Die Frauenstimme stellte sich vor als Ärztin des Psychiatrischen Landeskrankenhauses.
Sie sagte: Ihre Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen.
Ich schwieg. Sie fragte, ob ich verstanden hätte, ich bejahte, ungefragt sagte sie, dass es nicht sinnvoll sei, jetzt noch ins Krankenhaus zu fahren, da man die Patientin in einen heilsamen Betäubungsschlaf versetzt habe, sie werde nicht vor morgen Nachmittag ansprechbar sein.
Wie hat sie es gemacht, sagte ich.
Tabletten, sagte sie. Wir wissen noch nicht genau, wie viele. Kann aber nichts wirklich Wildes gewesen sein, denn sie hat selbst den Hausarzt
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