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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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bekannte, aber von niemandem bekämpfte Phänomen, dass die Menschen der First Nations alle zuckerkrank sind, weil sie sich von ihren Sozialhilfeschecks nichts anderes kaufen können als fette und süße billige Nahrungsmittel, das hatte mich jetzt eingeholt. Jetzt war ich wie sie. War den Menschen, die sich Die Menschen nennen, ähnlich. Kafkas Traum in Erfüllung gegangen. Ich war ein Indianer geworden. Endlich. Unter den Indianern hat jeder meines Alters Diabetes des Typs 2. Wenn Winnetou so alt geworden wäre, wie ich jetzt bin, dann wäre ich jetzt so wie er. Nein, besser. Er wäre wie ich.
    Fett und alt und zuckerkrank. Und desillusioniert. Wobei er als Angehöriger des Stammes der Dine, was natürlich Die Menschen heißt, während der Name Apache, den die Amerikaner und Mexikaner ihnen gaben, eine Beleidigung ist, mich bei Weitem übertroffen hätte. Der Dine-Mann Winnetou im Arizona oder New Mexico der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wäre mit Sicherheit um ein Vielfaches mehr desillusioniert gewesen als ich. Und zwar nicht wegen Altersdiabetes.

23
    Als Kind war es mir nie aufgefallen, auch später nicht wirklich, als ich nur noch gelegentlich zu den üblichen Familienbesuchen gekommen war. Jetzt erst, nach der jahrelangen durchgehenden Abwesenheit, sah ich es. Das Dorf ist ein äußerst hässliches Dorf. Irgendwann einmal, vor den Großen Zeiten, da war es vielleicht ein hübscher Weiler mit einem oder zwei Dutzend Bauernhöfen gewesen, die im richtigen Abstand voneinander zwischen den Feldern und Wiesen standen. Dann aber, als der fette Herrmann Arbeiter brauchte für sein großes Stahlwerk in Linz, bauten sie für diese Arbeiter Wohnhäuser auf die Wiesen zwischen den Höfen.
    Zuerst waren es nur nicht mehr benötigte Scheunen, von den Bauern notdürftigst ausgebaut, je ein Stadel oder alter Stall oder gemauerter Wagenschuppen, filetiert in zehn oder zwölf Zimmer-Küche-Wohnungen und an die Arbeiter vermietet. Dann zogen andere Leute, die bald nach dem Krieg schon wieder Geld hatten, neue Mietshäuser hoch, und schließlich war der Ortskern dicht besiedelt. Und hässlich, wie die Nacht finster ist. Da gab es den fetten Herrn Mann lange nicht mehr, aber sein Stahlwerk gab es noch, und dessen Arbeiter und deren Wohnraumbedarf.
    Herr Mann, das war der Lieblingswitz meines Vaters. Genau genommen war es gar kein Witz, eher ein kabarettistischer Sketch, den er oft und ausführlich zelebrierte, wenn die Männer anfingen, von den alten Zeiten zu reden. Kommt einer mit einem großen fetten Eber und einer ebenso fetten Muttersau und einer Schar kleiner fetter Ferkelchen. Sagt: Das ist die Familie Mann. Das sind die Kinderchen der Manns, das ist die Frau Mann, und das ist Herr Mann. Da konnte er sich zerkugeln, mein Vater, jedes Mal aufs Neue. Hätten dir die Rübe abgehackt damals unterm Adolf, fügte er jedes Mal hinzu, und dass dies Zeiten gewesen seien, die wir uns gar nicht vorstellen könnten.
    Wieder fuhr ich nicht direkt zu ihrem Haus, sondern nahm den Umweg durch das Dorf. Schon als Kind hatte ich nur Scham empfunden, wegen der unbarmherzigen Ärmlichkeit. Im Schritttempo fuhr ich dahin, versuchte, das neue Dorf zu sehen, das sie zum alten dazugebaut haben, und teilweise über das alte drübergebaut haben in den letzten zehn oder zwanzig Jahren. Versuchte, nicht nur das Dumpfe zu sehen, das Miefige, das Zwangausübende. Sondern auch die positiven Seiten. Die gab es möglicherweise, hatte es vielleicht immer schon gegeben. Ich hatte sie jedoch nicht gesehen, weil sie nicht für mich gedacht waren.
    Ich hasse das Dorf nicht wegen seiner Kleinheit und Enge und hermetischen Abgeschlossenheit, sagte ich mir, sondern deswegen, weil es mich nicht an sich gedrückt und mich aufgenommen hat in die Enge und mich nicht abgeschnitten und damit geschützt hat vor dem fremden Unbekannten da draußen, und weil es mir die Wärme nicht gegeben hat, die entsteht, wenn es wo eng ist und alle Öffnungen nach außen abgedichtet sind.
    Wie ich mich geschämt hatte wegen der Ärmlichkeit. Im katholischen Knabeninternat hatte ich zu verheimlichen versucht, dass mein Vater Maurer gewesen war und meine Mutter Putzfrau. Es wäre nicht zu ertragen gewesen, unter all den Söhnen von Großbauern und Ärzten und Schottergrubenbesitzern. Bis mich dann der Lateinprofessor eines Tages hinausrief vor die Klasse, unangekündigte mündliche Prüfung, dachte ich und begann zu schwitzen. Er hatte jedoch nicht vor, mich abzufragen,

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