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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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unbesiegbar bei den Langsamradlerrennen. Theoretisch hätte ich damit zehn Stunden auf der Stelle stehen bleiben können, krähte er mit höchstem Vergnügen, wenn er davon erzählte, musste nur immer abwechselnd ein wenig vorwärts treten, dann wieder zurück, mein Rad wippte einfach ein paar Zentimeter vor, ein paar zurück. Und darum bin ich ein Laote!, schrie er dann.
    Auf vielen der anderen Fotos war eine Frau abgebildet, die ich nicht kannte. Meine Mutter. Ihre faltige Haut, ihre langsamen Bewegungen, die aussahen, als bereiteten sie ihr Schmerzen, ihr flaches Atmen, das gleichzeitig schwer klang, all das war mir aufgefallen, als sie hinuntergekommen war in die Garage. Auf den Fotos dagegen war eine andere Frau abgebildet, nicht faltig, nicht schmerzensgeplagt, nicht kurzatmig. Ich erkannte sie nicht. Es war eine fremde Frau. Was mich in eine große Distanz brachte zu ihr. Und noch viel größer war die Distanz zu der Abbildung in dem Rahmen mit dem Totenbild.
    Die Naziuniform. Die dichten, weich aussehenden Haare, die vollen Lippen, die Augen, die den Betrachter anschauen, als hätte er mit einer unbedachten Äußerung Verletzungen zugefügt. Die floskelhaften Zeilen unter dem Foto. Unvergessen für immer. Fern der Heimat. Unersetzlicher Verlust. Als Kind hatte ich es auswendig gekonnt. Doch eine Sache hatte ich als Kind nicht gesehen auf diesem Bild, etwas, das mich jetzt ansprang, als sei es herausvergrößert aus der Aufnahme, als sei es das eigentlich Abzubildende, dessentwegen das Fotostudio aufgesucht worden war.
    Zwei weiße Zacken dicht nebeneinander auf seinem Kragenspiegel. Zwei absolut symmetrische Blitze, die in geringem Abstand vollkommen parallel in Richtung seines Halses sausen. Warum sie nie davon erzählt hatten, war mir klar in diesem Moment. Nicht klar war mir, warum ich selbst es nie gesehen hatte. Seit ich denken kann, hing dieser Totenzettel in der Wohnung, zuerst in der schäbigen kleinen Mietwohnung im Bauernhof, dann im irgendwie verschämt protzenden Neubauwohnzimmer. Ungezählte Male war ich daran vorbeigegangen, hatte das Bild als Kind oft angestarrt, voller Bangigkeit nach dem Beginn der Schulpflicht, als ich endlich lesen konnte, weil unter dem Sterbebildchen dieses Soldaten mein Name stand. Nie hatte ich gesehen, dass auf seinem Uniformkragen die Doppelbuchstaben standen, bei denen die alten Männer im Wirtshaus die Stimme senkten, wenn sie sie aussprachen.

24
    Die ersten Seiten des Aufsatzes waren erledigt. Der Sprecher meiner Auftraggeber hatte den Prolog akzeptiert. Er schickte ein Mail ohne Inhalt, in die Betreffzeile schrieb er in Versalien: Weiter so. Mit zwei Rufzeichen. Was mich irritierte. Ein Rufzeichen wäre gut gewesen. Drei Rufzeichen wären sehr gut gewesen, ich hätte sie so interpretiert, dass er den Einstieg in den Aufsatz als außerordentlich gelungen wertete. Aber was soll man von zwei Rufzeichen halten?
    Mein Aufsatz begann mit einem Prolog: Heiliger Mann, Politiker, genialer Abwickler einer vom Imperium aufgegebenen Provinz, Beschützer oder zumindest Tröster der Opfer der Abwicklung. Das war Severinus, der Heilige Noricums. Das Imperium Romanum war untergegangen auf eine Art, wie alle Imperien untergehen. So, dass die Bürger des Imperiums nicht wahrnehmen, dass sie soeben untergehen. Was groß und ewig scheint, beginnt irgendwann zu erodieren, man bemerkt den Moment nicht, an dem dies anhebt. Die Erosion verdichtet sich zu dramatischen Ereignissen von weltpolitischer Bedeutung, dann gerinnt der Untergang jedoch wieder zu einem leisen, unscheinbaren Zerbröseln von allem, was festgebaut schien für Jahrtausende. Und wieder bemerkt man den Moment nicht, an dem der Untergang besiegelt ist, erst spätere Historikergenerationen bringen Ordnung hinein, rekonstruieren Abläufe, legen Zusammenhänge bloß, finden Ursachen, beschreiben Wirkungen. Erklären das Unerklärbare.
    Wenn weltliche Macht schwindet, sich auflöst, mit unzähligen kleinen Schritten zerrinnt in Bedeutungslosigkeit, können Menschen allem Anschein nach nur von transzendenten Mächten vor dem Versinken in Resignation bewahrt werden. Folgerichtig trat Severinus, in der ersten Hälfte seines Lebens Mann des Imperium Romanum in den Provinzen an der Donau, in die verbürgte Geschichtsschreibung ein als Mann Gottes.
    Die Größe seiner Taten, wären sie bloß jene eines profanen Sterblichen, würde ausreichen, um ihm seinen Platz in der Geschichte zu sichern. Weil sie etwas Größeres sind,

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