Das leere Land
Tankstellenpächters irre geworden war und eine US -amerikanische Familie gekidnappt hatte, die in einem entlegenen Birkenwald am Lake Superior in einem luxuriösen Wohnwagen campierte, im Wald, nur ein paar Gehminuten entfernt von einem Kiesstrand, den die Einheimischen Muschelbucht nennen.
Die Eltern hatte er gleich erschossen, mit einem Kleinkalibergewehr aus nächster Nähe. Die beiden minderjährigen Töchter hatte er im Wohnwagen versperrt gehalten, an der Flucht gehindert nicht nur durch Hand- und Fußfesseln, sondern auch noch durch eine Kette samt Vorhängeschloss, mit der er die Tür versperrte. Zwei Wochen lang kam er mindestens einmal täglich zu seinen kleinen Gefangenen und missbrauchte sie. Dann erschoss er das jüngere Mädchen, bevor es verhungerte, und hielt die andere eine weitere Woche lang gefangen, ehe er auch sie tötete. Das Monster von der Muschelbucht, so nannten sie ihn.
In der Lokalzeitung war darüber wenig zu finden. Ich nahm die Mühe nicht auf mich, nach Toronto zu fahren und in den Archiven überregionaler Blätter zu suchen. Denn meine Auftraggeber hatten entsetzt meinen Entwurf gelesen, in dem diese Geschichte vorkam, und hatten mir nicht nur mit Kündigung des Auftrags gedroht, sondern auch mit rechtlichen Konsequenzen, falls ich die Geschichte anderweitig publizieren wolle. Wo doch gerade erst Gras über die Sache gewachsen sei. Schließlich sollte das Heimatbuch ja Fremde anlocken, Touristen, Geldablieferer, und nicht sie erschrecken mit Horrorgeschichten.
Sie kam nach unten zum Garagentor, das seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet worden war. Es funktionierte ohne Probleme. Ich musste mich ein wenig gegen ihre Hilfe wehren, sie wollte zumindest eine der Taschen nach oben tragen, wenn sie schon den Koffer und den Rucksack nicht nehmen durfte. In meinem Kinderzimmer, das dann ein paar Jahre lang das Jugendzimmer genannt worden war, hatte sie mein altes Bett mit frisch gewaschener Bettwäsche bezogen. Ich wolle mich sicher erst ausruhen, sagte sie, und ging. An den Türgeräuschen in der Wohnung hörte ich, dass sie zuerst in die Küche ging, dann ins Schlafzimmer. Der kurze Schlaf am frühen Nachmittag.
Ich setzte mich ins Wohnzimmer und drehte den Fernseher an, ohne Ton. In der Aussparung der Wandverbauung, schräg über TV und Stereoanlage, hingen noch immer die alten braunstichigen Fotos in billigen Kunststoffrahmen. Sie mit meinem Vater, als er schon den Stock gebraucht hatte. Ich in verschiedenen Altersstufen zwischen zwei und zwölf Jahren, oder zusammen mit Cousinen und Cousins oder irgendwelchen Kindern aus dem Dorf. Sie und ihre Brüder in Uniformen. Und er. Der Mann mit meinem Namen. Es war der Handzettel, den sie in dieser Gegend bei Begräbnissen verteilen, damit der Verstorbene im Gedächtnis der Begräbnisteilnehmer bleibe, gerahmt hinter Glas. Es kann aber kein Begräbnis im Dorf gegeben haben, wenn er in Detmold draußen liegt, dachte ich, stand auf, betrachtete die Bilder aus der Nähe.
Auf einem stand mein Vater als junger Mann neben einem einfachen Fahrrad. Auf seine Fahrradkünste war er stolz. Jetzt habe ich es, hatte er einmal geschrien, während er in einer Illustrierten gelesen hatte. Ich bin ein Laote! Da steht es! Er zeigte uns den Artikel in der Zeitschrift. In Vietnam und Thailand bezeichnen sie die Laoten als faule und träge Menschen. Weil sie so langsam Fahrrad fahren. Die Laoten sind die langsamsten Radfahrer der Welt. Alle anderen würden bei diesem Tempo schon lange umfallen.
Das gefiel meinem Vater. Als junger Mann hatte er den Rekord im langsamen Radfahren gehalten. Die Burschen steckten eine Strecke von zehn Metern auf der Dorfstraße ab, dann traten sie nacheinander an. Wer am längsten für die zehn Meter brauchte, hatte gewonnen. Wahrscheinlich gilt der Rekord meines Vaters heute noch. Bei Übertragungen von Sechs-Tage-Rennen im Fernsehen wurde er ganz euphorisch, wenn die Fahrer vor irgendwelchen wichtigen Sprints ihre Räder zum Stillstand brachten und versuchten, so lange wie möglich auf einem Fleck stehen zu bleiben. Offensichtlich brachte es beim Sprint Nachteile, wenn man als Erster losfuhr.
Das Rad auf dem Foto hatte an der Nabe des Hinterrads einen riesigen Zahnkranz, von demselben Durchmesser wie der Kranz an der Pedalnabe. Er hatte sich diese Konstruktion in der Werkstatt des Dorfschmieds selbst zusammengeschweißt, die Rücktrittbremse ausgebaut, sodass er mit diesem Rad rückwärts fahren konnte. Damit machte er sich
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