Das leere Land
Nationalbibliothek in Kohls Reise von Linz nach Wien Einsicht zu nehmen.
Ich fuhr über Tulln, Königstetten und Mauerbach hinauf in den Wienerwald und weiter in die Bundeshauptstadt, aus dem flachen Donauland die Serpentinen hoch durch Buchenwälder. An den uralten Bäumen glühte das Herbstlaub, sehr beeindruckend, fast wie in Quebec und Teilen Ontarios. Nur dass man dort Stunden um Stunden durch die Farbenwirbel des Indianersommers fährt. Hier ist man in fünfzehn Minuten durch.
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Das Verrücktwerden ist wie eine Feuersbrunst, und das Verrücktsein ist einem ausgebrannten Gebäude ähnlich. Es ist ein geistiger Tod, der für den vernünftigen Zuschauer vielleicht grausenerregend ist, während für den Leidenden selbst die Kämpfe und Wallungen der vorhergehenden Krankheiten viel schrecklicher waren. Diese Krankheiten gleichen chemischen Processen mit gewaltigen Gärungen und Aufregungen, an deren Beendigung sich dann irgendeine kleine fixe Idee, die dann freilich oft nicht mehr wegzubringen ist, als Niederschlag zeigt.
Mit solchen Worten näherte er sich der oberösterreichischen Landeshauptstadt, in seinem Frühwerk über Linz und Wien. Viel dramatischer und auf ein sensationslüsternes Publikum zielender als zwanzig Jahre später in seinen nordamerikanischen Büchern schrieb Johann Georg Kohl über seinen Linz-Besuch anno 1842. Aus seinen Kanada- und Amerika-Schilderungen spricht der abgeklärte Aufklärer, der Rationalist und Humanist. In Linz suchte er das Erschreckende und Aufwühlende, das, was ankommt bei den Lesern, er trieb sich herum bei den Siechen und Irren und unter den Ausgebeuteten der beginnenden Industrialisierung, betrieb Feldforschung in Sachen schöne Linzerinnen.
Und die an Besessenheit grenzende Genauigkeit, mit der er in den Hütten und Zelten rund um den Großen See stets die Sprache im Auge hatte, die ihn ständig Passagen auf Englisch, Französisch und in verschiedenen Alquonkin-Dialekten in das Buch Kitchi Gami einbauen ließ, auf dass der Leser die feinen Nuancen bemerke, die bei all ihrer Feinheit doch große Unterschiede markierten, mit dieser Genauigkeit nahm er es in Linz noch nicht genau.
Auf der Pirsch nach der angeblich weltweit gerühmten Schönheit der Linzer Frauenwelt stieß Kohl als Erstes in die Küche des Wirtshauses vor, in dem er Quartier bezogen hatte, seiner rudimentären Schilderung nach muss es sich auf dem heutigen Pfarrplatz befunden haben. Sechs junge Mädchen fand er vor, und eine etwas ältere Frauensperson, die eigentliche Köchin und Lehrerin der anderen. Sie gefiel Kohl am besten, liebevoll beschreibt er ihre lebhaften Linzer Augen und ihren beständig schalkisch lächelnden Linzer Mund.
Die Köchinnen bereiteten Backhühner zu und anschließend die damals schon legendäre Linzer Torte. Johann Georg Kohl, da schon ganz manischer Polyhistor, holte den Notizblock hervor und ließ sich das Rezept vorsagen, wie er sich fast zwei Jahrzehnte später im Detail von einem Ojibbeway-Krieger diktieren ließ, wie man korrekterweise einen Sioux skalpiert.
Der Reiseschriftsteller aus Bremen ließ die schöne Köchin im O-Ton aus seinem Bericht sprechen, lautmalerisch ahmte er ihren Dialekt nach. Na geng’S her, nehmen’S Bichl und schreiben’S auf wos i sog. Zum Linzer Torten nehmts a Butter, flaumig abgrieben, und schüttets in die heiße Kuchenform.
Es hört sich an wie das sogenannte Böhmakeln, seine Angehimmelte dürfte eine Küchenkraft aus dem keine fünfzig Kilometer entfernten Böhmen gewesen sein. Kohl jedoch interpretiert ihre Mundart falsch. Recht hübsch, ganz allerliebst klang in ihrem Munde dieses Linzerische Deutsch, notiert er. Dass ihm, dem gewieften Beobachter, so ein Fehler unterlaufen konnte, dem genauen Chronisten, dem peniblen Aufzeichner von allem, was ihm in die Quere kam, verwunderte mich. Wahrscheinlich ist Kohl erst mit dem Reisen und Schreiben zum rationalen Humanisten geworden, der alles bedenkt und alles mit-denkt, was den Dingen jene Form verliehen haben mag, in der er sie als Beobachter vorfand.
Unentschlossen blätterte ich in dem Büchlein, herausgegeben zu Dresden und Leipzig im Jahre 1842 von der Arnoldschen Buchhandlung. Kohl hatte sich entlang der Donau bewegt über weite Strecken, wie Severinus es getan hatte und ich es tat. Zitables fand sich jedoch kaum. Letzten Endes hatte der Bremer Autor auf seiner hunderttägigen Reise durch die österreichischen Staaten meist nur die Oberflächen beschrieben. Wieso sie so sind
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