Das leere Land
er wollte mich demütigen. Was ihm mit ausgezeichnetem Erfolg gelang.
Was mein Vater von Beruf sei, fragte er. Wie es mir zu Hause aufgetragen worden war, antwortete ich auf diese Frage so wie immer mit dem Wort Feuerungstechniker. Musst du nicht unbedingt Maurer sagen, hatten sie mir eingebläut. Immerhin ist er Vorarbeiter. Feuerungstechniker ist rein sachlich genauso richtig wie Maurer. Der Lateinprofessor grinste breit. Er habe meine Eltern anzurufen versucht, wegen der mir ins Haus stehenden Wiederholungsprüfung. Dabei habe er im Telefonbuch nur einen Anschluss unter meinem Familiennamen gefunden. Da sei aber als Berufsbezeichnung Maurer unter der Namenszeile gestanden. Ob dies mein Vater sei.
Ich schwieg. Er sagte unsere Telefonnummer. Ob dies unsere Nummer sei. Ich nickte. Ob mein Vater Maurer sei, fragte er. Ich nickte. Ob mein Vater möglicherweise ein Roter sei. Ich schwieg, die Klasse wurde unruhig, einige kicherten. Der Professor unternahm nichts, um die Unruhe zu dämpfen, er fragte noch einmal, ob mein Vater Roter sei, wiederholte die Frage mit der Formulierung, ob er Sozi sei. Leise sagte ich, dass ich es nicht wüsste. Daraufhin ließ er mich zurück an meinen Platz gehen und forderte die Klasse zur Ruhe auf.
Der sadistische Lehrer hat mich dazu gebracht, der lateinischen Sprache mit großem Zwiespalt gegenüberzustehen. Zum einen liebe ich sie wegen der Knappheit und Klarheit, mit der sie komplexe Zusammenhänge ausdrücken kann. Immer wenn ich im Reclamheftchen mit der Vita des Heiligen Severinus blättere, zweisprachige Ausgabe, lese ich einen oder zwei Sätze auf der linken Seite in Latein und probiere, ob ich es noch übersetzen kann. Nesciunt facta priorum praeterire cum saeculo. Die Sprache kann nichts dafür, denke ich dann. Doch es ist und bleibt die Sprache der Quäler und Unterdrücker. Die Sprache des sadistischen Feindes. So werden wohl die Rugier empfunden haben, als das römische Reich noch groß und mächtig war und allen Barbaren mit kalter funkelnder Grausamkeit begegnete.
Vorbei im Schritttempo am Bauernhof, wo mein Vater und die anderen Vöestler ihre ersten eigenen Wohnungen selbst ausgebaut hatten; war nicht mehr gewesen als der alte Anbau für das Heu und das Stroh, die Mauern dünn gemauert, die Ziegel nicht verputzt. Die Arbeiter hatten selbst Zwischendecken eingezogen, die Außenmauern isoliert, Zwischenwände aus Zehnerziegeln hochgezogen, dafür zahlten sie im ersten Jahr keine Miete. Wie klein und leer alles in dieser Welt gewesen war, hatte ich nicht wahrgenommen, solange ich mich ausschließlich in ihr befunden hatte. Alle lebten in winzigen Wohnungen, fast ohne Möbel, auch die Bauern, mit Ausnahme der paar großen, denen der Großteil des Grundes rund um das Dorf gehörte. Deren Wohnungen sahen die Arbeiterkinder und Kleinhäuslerkinder nie von innen, höchstens die hallengroßen Vorhäuser.
Ein seltsames Erlebnis war es für mich, das erste Mal durch die Gegend um Marathon zu fahren, abseits der Seeufer-Idyllen, oder durch die Ortschaften an der Strecke nach Hibbing oder Duluth. Genauso ärmlich wie das Dorf meiner Kindheit sahen die Trailerparks aus, aufgebockte halb abgewrackte Autos vor den verdorrten Rasenflächen, Müll hinter den Häusern. Aber es schien mir dies eine andere Ärmlichkeit zu sein, eine bessere, auf verdrehte Art. Es war eine verschleierte Ärmlichkeit. Die Bewohner dieser bescheidenen Unterkünfte machten sich selbst und den anderen vor, sie hätten es sich selbst ausgesucht, es sei ihre Entscheidung, in einem Holzhaus zu leben, das nicht viel mehr war als eine schlampig gezimmerte Bretterbude, oder in einem Wohnwagen. Dafür aber könnten, nein, dürften sie in dieser grandiosen Natur sein.
Natürlich ist es eine Illusion von einem ärmlichen nordamerikanischen Arkadien in grandioser Landschaft. Überall zerbröckelt gleich alles, wenn man die Decke hochhebt und schaut, was sich darunter befindet. Wie im Uferdörfchen eine Autostunde westlich von Marathon, über das ich in einer Art Heimatbuch für den örtlichen Zeitungsverlag schreiben sollte, genau genommen war es nur eine Broschüre, die einer Jubiläumsausgabe beigelegt wurde. Meine Idee war gewesen, die Leute in den Blockhäusern und Trailern zu fragen, was sie für das Interessanteste hielten, das ihre Heimat vorzuweisen habe, die wichtigste Geschichte, den bedeutsamsten Platz. Und gleich waren sie alle zu einer vor zwölf Jahren geschehenen Begebenheit gekommen, als der Sohn des
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