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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Stausee, vierhundertfünfzig Quadratkilometer zwecks Stromgewinnung aufgestautes Wasser. Ein Paradies für Angler; Aale, Glasaugenbarsche, Forellenbarsche, Schwarzbarsche finden sich, und ein Fisch, der fast zwei Meter lang wird, den die Ojibbeway Maashkinoozhe nennen, Hässlicher Hecht.
    Für dich gibt es kein Asyl, Mishi Bizhi, wo immer dein Leech Lake sein mag, er ist kein Paradies, und er ist nicht sicher. Nichts und niemand birgt dich. Maashkinoozhe verfolgt dich, wohin du auch Zuflucht suchst, das hässliche Fischwesen, größte und aggressivste Hechtart, Muskie nennen ihn die Weißen. Er lauert, er wartet auf deine nächste Bewegung, damit er seinen torpedoförmigen Körper mit einem einzigen Schlag der Schwanzflosse beschleunigen kann, um wie ein Blitzschlag auf dich herunterzufahren. Dann reißt er sein riesiges Schnabelmaul auf und verschlingt dich in einem Stück.
    In den Zeitungen war sie wieder auf den Titelseiten. In Wien waren zehntausend Demonstranten durch die Innenstadt gezogen und dann am Innenministerium vorbei, auf Transparenten forderten sie ein Bleiberecht für die Fünfzehnjährige und den Rücktritt des hartherzigen Ministers. Die Ökopartei stellte im Parlament einen Misstrauensantrag gegen den Innenminister. Boulevardzeitungen zielten wie gehabt auf dumpfe Ängste: Nicht näher bezeichnete Helfer des untergetauchten Asylantenmädchens zitterten vor Angst, schrieben sie, denn die Polizei habe begonnen, nach Fluchthelfern zu fahnden mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Und in Oberösterreich arbeite die Politik, pikanterweise derselben Partei zuzurechnen wie der Minister, an einem Antrag, dem Mädchen ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren.
    Nur der Minister beharrte auf seiner Linie. In einer konservativen Zeitung stand sein Bild auf dem Titelblatt. Kein hässlicher Hecht, kein aggressiver fischkalter Jäger starrte da vom Papier, sondern ein streng gescheitelter bebrillter Mann, der die Hände zusammengelegt vor den Mund hielt, als hätte er sie gefaltet zu einem inbrünstigen Gebet. Er könne nicht mehr tun als sich an Vorschriften halten, sagte der Mann mit der Beterpose. Das laufende höchstgerichtliche Verfahren sei abzuwarten. Sollte es negativ ausgehen, würde die flüchtige Asylantin natürlich abgeschoben, sobald man ihrer habhaft werde. Die Zeitung zitierte den Minister wörtlich: Ich bekenne mich dazu, dass Gesetze konsequent eingehalten werden.
    Hättest du vor eineinhalb Jahrhunderten gelebt, Wasserluchsmädchen, an den Großen Seen der Anishinaabe, dann wäre dir eine andere Art von Gerechtigkeit widerfahren. Du hättest gar nicht flüchten müssen in die Sumpfwildnis am Leech Lake. Deine Angelegenheit hätten jene geregelt, die davon betroffen sind und die damit zu tun haben. Kohl schildert in einem Unterkapitel ausführlich die Vorgehensweisen von indianischer Justiz, und er ist sichtlich erstaunt über das, was er erfährt. Die für Friedensdinge zuständigen Häuptlinge hatten in allen Rechtsfragen nur wenig Kompetenz, sie stellten eher so etwas wie Moderatoren dar, die einen Kompromiss zwischen Streitparteien, zwischen Opfern und Tätern herbeizuführen trachteten.
    Die eigentliche juristische Regelung machten sich die Verfahrensbeteiligten untereinander aus. Was Kohl nicht unbedingt für ein vorteilhaftes Justizsystem hält, ihm, dem Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, fehlen ganz offensichtlich autoritäre Entscheider, die kraft festgeschriebener Regeln zu rechtsverbindlichen Urteilen kommen. Er mutmaßt, dass dieses eher fließende Verständnis von Strafen und Urteilen und Konfliktlösungen den Indianern nicht von jeher eigen war, sondern dass die weißen Eroberer dieses System gezielt implantiert hatten. Die Engländer, Franzosen und Amerikaner installierten bei allen Stämmen, auf die sie Einfluss gewonnen hatten, eine Vielzahl von Häuptlingen und Unterhäuptlingen. Die waren naturgemäß so schwach, dass sie nicht mehr wirklich entscheiden, sondern nur noch Vorschläge machen konnten. Damit verschwand die Autorität der natürlichen Häuptlinge, und es wuchs der Einfluss der Eroberer. Meint Kohl.
    Der immer alles skeptisch beäugt, was mit einem eindeutigen ersten Anschein daherkommt. Der Skeptiker Kohl misstraute seinen indianischen Auskunftspersonen auch, als sie ihm Leech Lake schilderten wie ein kleines fruchtbares Paradies für Flüchtlinge. Vielleicht sind diese sogenannten Zufluchtsorte nur deshalb so perfekt, schreibt er, weil es sich um

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