Das leere Land
gottverlassene einsame Landstriche handelt, optimal geschützt durch undurchdringliche Wildnis, oder vielleicht sind sie deswegen so sicher, weil sie sich auf Territorien von Stämmen befinden, die noch vollkommen unabhängig von den Weißen leben, die ebenso wenig wie andere Stämme in diese Areale einzudringen wagen.
Ich misstraue in diesem Fall Kohl. Weil mir die indianische Justiz so, wie er sie beschrieb, sympathischer erscheint als das, was sich eineinhalb Jahrhunderte später Rechtsstaat nennt. Die Menschen an den Großen Wassern hatten Vernunft und Augenmaß und ein Gefühl für das, was ihrer Gesellschaft zumutbar war. Heute haben die Männer mit Entscheidungskompetenz keinerlei Gefühl mehr für die, denen sie vorstehen, sie verlassen sich auf Quoten und Meinungsumfragen, und sie haben nur ihre Aussichten bei den nächsten Wahlen im Auge.
Unter dem Foto des Ministers schaute ein alter Mann aus der Zeitung, grauhaarig, ebenfalls korrekt gescheitelte Frisur, das Gesicht ein wenig bartstoppelig, als würde er sich nicht mehr gerne rasieren, da er die zerfurchte, zerfaltete Haut seines Gesichtes zu oft schon zerschnitten hat mit dem Stahlband des Bic-Rasierers. Müde und erschöpft blickte er die Leser an, aber auf eine entspannte Art zufrieden. Es war das Foto eines Pensionisten, dessen sterbliche Überreste das Linzer Sozialamt verbrannt hatte, ohne seine Familie zu fragen oder zu informieren.
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Wenn der eine nicht gestorben wäre, dann wärst du heute noch mit dem anderen zusammen, oder? Das wollte ich sie fragen, traute mich aber nicht. Ich wollte ihr die Verantwortung zurückgeben, für alles, war jedoch zu feige. Was kümmert es den Menschen, der für seine Zukunft plant und für die Kinder sorgt, wenn sein wohlerwogener Wille grundverwachsene Familienstücke aus der heiligen Ruhe schrecken und altersgeweihte Fugen sprengen und vernichten muss, schreibt Dörfler in seinem Mutter-Buch.
Sie redete und redete, es war eine abendliche Routine geworden, sie erzählte, ich hörte zu, ohne Plan und mit wild durcheinandergeworfenen Zeitabläufen erzählte sie, ich stellte manchmal Fragen, aber keine wichtigen, nur Ergänzungen, Erläuterungen waren es, derentwegen ich sie zu unterbrechen wagte. Und sie sprach von Oldenburg, wo sie den Reichsarbeitsdienst hatte ableisten müssen, in Lohne, bei Oldenburg, aber nicht von den Kopftüchern und uniformartigen Schürzen redete sie, oder den Nazifamilien, bei denen sie gearbeitet hatte, oder den Lagerroutinen in den Holzbaracken, oder den Liedern, die sie gesungen hatten, oder davon, ob sie die Lieder mit Begeisterung gesungen hatten und ob ihnen ein heller Schauer der Bedeutungsschwere über den Rücken gelaufen war, wenn sie am Morgen und am Abend in Reih und Glied angetreten waren, und die Fahne flatterte über ihren Köpfen, die mit dem uralten indogermanischen Sonnenrad.
Vom RAD erzählte sie nichts, außer dass das Lager in Lohne genau so eine Holzbarackensiedlung gewesen sei wie jene hier im Dorf, gleich neben dem Grundstück, auf das sie später dann ihr Haus gebaut hatten. Es sei ein sehr bekanntes RAD -Lager, das in unserem Dorf, sagte sie, ein Männerlager, ganz Österreich kenne es, denn hier habe dieser berühmte Kolumnist dieser meistgelesenen Zeitung, der nun schon lange in Pension sei, schade eigentlich, der habe zwar die Leute geärgert, aber oft habe er letzten Endes recht gehabt, der habe hier seinen Dienst ableisten müssen, dabei zeigte sie durch das Wohnzimmerfenster in den Nachbargarten.
Und dort drüben, sagte sie mit einem Wink in Richtung Küche, dort sei die Blutwiese gewesen, da hätten sie die jungen Männer geschliffen in einem Ausmaß, das man sich gar nicht vorstellen könne, der berühmte Kolumnist habe manchmal in seinen Kolumnen Andeutungen gemacht, wirklich ausgeschrieben habe er nie, was es bedeutet hatte, weil es ihm niemand geglaubt hätte. Was sie Blutwiese nannte, war ein steiler Hügel am Rand des Dorfes, als Kinder waren wir mit den Schlitten hinuntergesaust, aber nur die mutigsten, denn der Hang war so steil und ging an seinem Ende so unvermittelt in den ebenen Auslauf über, dass der Schlitten steckenblieb bei klebrigem nassen Schnee, und dann stürzte man kopfüber von der Rodel in den feuchten Schneedreck.
Da haben sie sie hinaufgehetzt einen halben Tag lang, sagte sie, immer wieder, und wenn einer nicht mehr konnte, musste er extra noch zehn Mal hinauf, sie habe das Bild noch vor Augen, die seien so erschöpft
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