Das leere Land
aussah wie Severinus und den Gibuld vorwurfsvoll und tadelnd ansprach. Und schon ließ Gibuld alle Geiseln frei, jene siebzig, die in seiner Residenz waren, umgehend, und die weiteren, die im Alemannenreich festgehalten wurden, an den folgenden Tagen. Es sei eine sehr große Anzahl armseliger Menschen gewesen, berichtet Eugipp.
Odoaker, und Gibuld, und Flaccitheus nicht zu vergessen, alle erschauerten sie vor Gottes Gewalt, die ihnen durch den Heiligen Mann bedrohlich entgegenstrahlte, behauptet Eugipp. In Wahrheit war es viel prosaischer. Die Germanenführer sondierten, erkundeten Möglichkeiten, fühlten vor, tasteten sich an Grenzen des Zumutbaren heran. Bereiteten dabei die Neuverteilung der Welt vor. Ihr Ansprechpartner war Severinus, der Vertraute des Orestes, gemeinsam hatten sie als hochrangige Verwaltungstechniker gedient am Hofe des Hunnen Attila, wenn Gieses Version stimmt. Orestes war in jenen Tagen bereits Drahtzieher in allen Herrschaftsdingen Westroms, er musste da schon Pläne geschmiedet haben, seinen Sohn als Cäsar auf den Thron in Ravenna zu befördern, der dann sowohl den Namen eines der Begründer von Rom als auch den des ersten Kaisers trug, wenn auch in Verkleinerungsform, Romulus Augustulus, und doch nicht mehr war als eine Marionette seines Vaters und seines Onkels.
Wenn die Skiren und Heruler und Alemannen und Rugier und der große Odoaker, der vor allem, wenn die erfahren wollten, wie das Imperium tickte, wie Orestes und die Adelselite die Lage einschätzten, wie weit sie würden gehen können ohne den Bogen zu überspannen, so war es naturgemäß der einfachste Weg, sich an den Stellvertreter der wahren Macht zu wenden, der ihnen zugänglich war, Severinus, den Busenfreund des Orestes.
Dass Severinus und der spätere Kaiser Odoaker Freunde gewesen sein sollen, kann nicht stimmen. Das weist sich später in der Geschichte, nach wenigen Jahren nur, als auf einmal der stinkende Barbar in den räudigen Fellen der Herrscher der Welt geworden war, dem die edlen Römer ihre Steuern abzuliefern hatten. Und Severinus, der vir illustrimus, der römische Adelige, das geistige und weltliche Oberhaupt aller lateinisch sprechenden Menschen in Noricum und Rätien und Pannonien, zumindest von dem, was noch existierte von diesen Provinzen, dieses Oberhaupt wurde gehorsamer Untertan und willfähriger Vollstrecker des neuen Herrschers. Er tritt in Eugipps Vita auf einmal auf als der eisenharte Eintreiber des dem skirischen König zustehenden Zehent.
Die Chronisten rühmen dies als Bewahren des Überblicks über eine zerfallende Struktur, als Versuch der Aufrechterhaltung von Ordnung. Es ändert nichts daran. Am Ende, im Untergang Westroms, war der Heilige Mann zum gnadenlosen und gefürchteten Steuereintreiber der neuen Macht geworden, der Exekutor, der Gerichtsvollzieher, der die säumigen Steuerzahler nicht mit weltlicher Gewalt bedrohte, sondern mit dem Strafgericht Gottes.
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Es existieren viele verschiedene Plätze, die respektiert werden von allen Teilen der Ojibbeway-Gesellschaft und auch von den benachbarten Stämmen als Zufluchtsort für Verfolgte, schrieb Johann Georg Kohl, und er nannte das berühmteste Asyl, von dem ihm Kunde zu Ohren gekommen war. Leech Lake, ein See am Oberlauf des Mississippi. Heute liegt rund um den See am US -Highway 2 in Minnesota ein großes Ojibbeway-Reservat, obwohl die Gegend eigentlich Lakota-Land war. Aber der Druck der weißen Eroberer hatte eine kleine Völkerwanderung ausgelöst, Pillager- und Mississippi-Stämme bewegten sich in die Region, im siebzehnten Jahrhundert schon, aus der Gegend von Wisconsin trafen vertriebene Menominee- und Winnebago-Gruppen ein, alles mischte sich.
Welche Vergehen auch immer einem Mann oder einer Frau zur Last gelegt wurden, im Asylum am Leech Lake konnte er oder sie unbehelligt und sicher leben. Und aus dem Reichtum der Natur schöpfen, kein Nahrungsmangel plagte die Untergetauchten, keine Justiz verfolgte sie, kein rächender Arm durfte sich ihnen nähern in strafender Absicht.
Wahrscheinlich war die Gegend deshalb ein Asyl, weil es sich um eine wilde Sumpflandschaft handelte, in der sich Ortsfremde nur schwer orientieren konnten. Dutzende kleine und größere Seen gibt es dort, an mehr als vierzig von ihnen ernten die Menschen heute noch wilden Reis. Und es gibt Dutzende von Inseln, damals wahrscheinlich die perfekten Verstecke für Untergetauchte, für die von Kohl beschriebenen Asylsuchenden. Heute ist der Leech Lake ein
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