Das letzte Buch
der Leiche am nächsten. Sie wirkte gefasster, als ich erwartet hatte.
|37| »Niemand hat etwas berührt«, sagte sie leise, als ich zu ihr trat. »Ich habe die Besucher gebeten, bis zum Eintreffen der
Polizei hierzubleiben. Ich hoffe, ich habe richtig gehandelt.« Ich lächelte ihr zu. »Sie haben sich hervorragend verhalten!
Wenn Sie sich entschließen, die Buchhandlung nach alledem aufzugeben, dann werde ich für Sie eine Anstellung bei der Polizei
finden …«
Sie erwiderte mein Lächeln, doch gleich darauf wurde ihr Gesicht wieder ernst.
Noch bevor ich mich neben dem Körper niederhockte, erkannte ich den jungen Mann. Ein großes Buch verdeckte teilweise sein
Gesicht und den Ohrring, aber da war noch der grellrote Schal, der einem breiten Blutband glich. Ich schob die Finger unter
den Wollschal und tastete nach der Schlagader am Hals. Ich spürte nichts.
Dann schaute ich über die verstreut liegenden Bücher und richtete den Blick auf das Regal. Die oberen Reihen waren teilweise
leer. Ich stand auf, zog den Mantel aus und bedeckte damit die Leiche. Ringsum herrschte Stille.
»Wir müssen den Sessel rehabilitieren«, sagte ich zu Fräulein Gavrilović. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht genau«, antwortete sie niedergeschlagen. »Ich hatte meine Aufmerksamkeit ganz auf die Dame gerichtet, die
sich in den Sessel gesetzt hat. Das hatten Sie mir doch aufgetragen, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Dann war so eine Art Aufruhr zu hören und die Bücher fielen herunter. Zuerst hatte ich gedacht, ein Regal wäre umgefallen.
Obwohl das natürlich unmöglich ist. Erst als ich näher kam, sah ich den jungen Mann auf dem Fußboden.«
»Er war auch gestern Abend hier.«
»Das stimmt. Er war ein Stammkunde. Student der Veterinärmedizin. Er las so gern Gedichte.« Sie begann zu schluchzen. »Das
ist schrecklich …«
|38| Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. Ich wusste, ich musste etwas sagen, aber mir fiel nichts Passendes ein. In meiner
Verwirrung tat ich etwas Überflüssiges. Ich zog meine Dienstmarke heraus und hob sie hoch – als wüssten nicht schon alle,
dass die Polizei eingetroffen war!
»Kriminalkommissar Lukić. Ich danke Ihnen, dass Sie geduldig gewartet haben, bis ich gekommen bin. War jemand in der Nähe,
als der junge Mann gestürzt ist?«
Einige Sekunden sahen sich die Besucher schweigend an. Dann räusperte sich ein junges Mädchen. Sie war klein gewachsen, mit
ganz kurzem schwarzem Haar und Stupsnase, auffällig bunt gekleidet. Sie hatte einen Kaugummi im Mund.
»Ich habe neben ihm gestanden.« Sie zeigte auf die Stelle, wo unter meinem Mantel die Füße des jungen Mannes hervorlugten.
»Hier.«
»Haben Sie gesehen, was los war?«
»Er hat plötzlich mit den Armen gerudert, als hätte er einen Anfall oder so was. Dann hat er die Bücher vom Regal runtergerissen
und ist hingestürzt.«
»Einfach so aus heiterem Himmel?«
»So hat es ausgesehen.«
»Was hat er vorher getan?«
»Er hat irgendein Buch angeschaut.«
»Hat er mit jemandem gesprochen? Ist jemand zu ihm gekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Von der Tür erscholl der scharfe Ton der Türschellen, und Doktor Dimitrijević trat ein in Begleitung zweier Sanitäter. Der
eine trug eine zusammengeklappte Bahre.
»Ich möchte Sie bitten«, sagte ich mit erhobener Stimme, »die Buchhandlung zu verlassen. Wir müssen den Tatbestand aufnehmen.«
Ich blickte das schwarzhaarige Mädchen an. »Ich danke Ihnen.«
|39| »Ist er tot?«, fragte sie verunsichert.
»Ja, leider.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, fand aber keine Worte. Sie nahm den Kaugummi heraus
und behielt ihn zwischen den Fingern, dann machte sie kehrt und schloss sich der überwiegenden Zahl der Besucher an, die murmelnd
zum Ausgang strebten. Nur zwei gingen an die Kasse zu Fräulein Gavrilović, um Bücher zu bezahlen, die sie sich ausgesucht
hatten.
Doktor Dimitrijević reichte mir den Mantel.
»Ich denke, der gehört Ihnen.«
Ich nickte, nahm den Mantel und legte ihn auf einen der Sessel. Ich blieb daneben stehen, mein Blick wanderte durch die leer
gewordene Buchhandlung, die nun wesentlich größer wirkte.
Bald darauf kam Fräulein Gavrilović zu mir. Nachdem sie den letzten Kunden hinausbegleitet hatte, drehte sie das Schild an
der Tür um, sodass nun von der Innenseite zu lesen war: GEÖFFNET. Sie sah mich lange an, sagte aber nichts, obwohl ihr
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