Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
– ich hatte Angst, dass ihm die Krone abfallen würde – und sein Mund stand offen. Lisene sagte: »Ihr habt den unvergleichlichen Krieger gesucht, den ihr in Erinnerung hattet, aber gefunden habt ihr einen kraftlosen, senilen, alten Mann. Glaubt mir, ich habe Verständnis für eure Notlage, aber ihr müsst doch sehen – «
Schmendrick schnitt ihr das Wort ab. Ich hatte nie gewusst, was Leute meinten, wenn sie davon sprachen, dass jemandes Augen Blitze schleuderten, aber grüne Augen zumindest können das wirklich. Er wirkte jetzt noch größer, als er war, und als er einen Zeigefinger auf Lisene richtete, dachte ich wirklich, die kleine Frau würde in Flammen aufgehen oder vielleicht auch zerschmelzen. Was Schmendricks Stimme besonders furchterregend machte, war, dass sie so ruhig war. Er sagte: »Hör zu. Ich bin Schmendrick, der Zauberer, und ich sehe meinen alten Freund Lír, wie ich ihn immer gesehen habe – klug, mächtig und gut, geliebt von einem Einhorn.«
Und zum zweiten Mal wurde der König bei diesem Wort wach. Er blinzelte einmal, umfasste dann die Armlehnen seines Stuhls und stemmte sich hoch. Er sah nicht uns an, sondern Lisene und sagte: »Ich werde mit ihnen gehen. Es ist meine Aufgabe und meine Gabe. Du wirst dafür sorgen, dass man mich bereit macht.«
Lisene sagte: »Majestät, nein! Majestät! Ich flehe dich an!«
König Lír streckte die Arme aus und nahm Lisenes Gesicht zwischen seine mächtigen Hände, und ich sah, dass da Liebe zwischen ihnen war. Er sagte: »Dafür bin ich da. Das weißt du so gut wie er. Sorge dafür, Lisene, und hüte mir alles gut, während ich weg bin.«
Lisene guckte so traurig, so verloren, dass ich nicht wusste, was ich denken sollte, von ihr, von König Lír und überhaupt. Ich merkte nicht, dass ich zurückgewichen war und mich an Molly Grue gedrängt hatte, bis ich dann ihre Hand in meinem Haar fühlte. Sie sagte nichts, aber es tat gut, sie zu riechen. Lisene sagte ganz leise: »Ich werde es veranlassen.«
Sie drehte sich um und ging mit gesenktem Kopf in Richtung Tür. Ich glaube, sie wollte einfach an uns vorbeigehen, ohne uns anzusehen, konnte es aber nicht. An der Tür hob sich ihr Kopf, und sie starrte Schmendrick so eisig an, dass ich mich in Mollys Kleidern verkroch, um ihre Augen nicht sehen zu müssen. Ich hörte sie sagen, so als brächte sie die Worte kaum heraus: »Du wirst ihn auf dem Gewissen haben, Zauberer.« Ich glaube, sie weinte, auch wenn sie nicht weinte – wie es Erwachsene eben tun.
Und ich hörte Schmendricks Antwort, und seine Stimme war so kalt, dass ich sie nicht erkannt hätte, hätte ich’s nicht gewusst. »Er ist schon mal gestorben. Besser jener Tod – besser dieser, besser jeder Tod – als der, den er in diesem Stuhl zu sterben im Begriff war. Wenn ihn der Greif tötet, wird er ihm trotzdem das Leben gerettet haben.« Ich hörte die Tür zufallen.
Ich fragte Molly, so leise ich konnte: »Wie hat er das gemeint – dass der König schon mal gestorben ist?« Aber sie schob mich beiseite und ging zu König Lír, kniete sich vor ihm hin, hob die Arme und nahm seine Hand zwischen ihre Hände. Sie sagte: »Herr… Majestät… Freund… lieber Freund… erinnere dich. Oh, bitte, bitte, erinnere dich.«
Der alte Mann schwankte, legte aber die andere Hand auf Mollys Kopf und murmelte: »Kind, Sooz – war das dein hübscher Name, Sooz? – natürlich werde ich mit in dein Dorf kommen. Der Greif ist noch nicht geschlüpft, der es ungestraft wagen könnte, sich an König Lírs Volk zu vergehen.« Er plumpste wieder auf den Stuhl, hielt ihre Hand aber weiter fest. Er sah sie an, die blauen Augen weit, die Lippen ein wenig zitternd. Er sagte: »Aber du musst mich erinnern, Kleines. Wenn ich… wenn ich mich verliere – wenn ich sie verliere – musst du mich dran erinnern, dass ich immer noch suche, immer noch warte… dass ich sie nie vergessen habe, mich nie von all dem, was sie mich gelehrt hat, abgekehrt habe. Ich sitze hier… ich sitze… weil ein König nun mal sitzen muss… aber im Geist, in meinem armen Geist, bin ich immer noch bei ihr…
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Jetzt weiß ich es.«
Dann schlief er wieder ein, hielt aber immer noch Mollys Hand. Sie blieb noch lange bei ihm sitzen, den Kopf auf sein Knie gelegt. Schmendrick ging hinaus, um sich zu vergewissern, dass Lisene tat, was sie tun sollte: alles für die Abreise des Königs vorbereiten. Es war schon jede Menge Poltern und Klappern und
Weitere Kostenlose Bücher