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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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sich ganz langsam, mit einer unheilvollen Zierlichkeit, als versuche er, ihm die Furcht zu nehmen, und wieder brach es aus. Mit einem wehen, leisen Laut stob es herum und rannte den Weg zurück, den es gekommen war; durch die zertretenen Felder und über die Ebene, auf König Haggards Schloss zu, das so düster und drohend aussah wie eh und je. Und der Rote Stier folgte dem Einhorn, folgte seiner Furcht.
    Schmendrick und Molly waren von dem vorüberstampfenden Stier wie Hobelspäne beiseitegewirbelt worden, Molly stürzte ohnmächtig zu Boden, der Zauberer flog in ein Dornengestrüpp, das ihn die Hälfte seines Mantels und ein Achtel seiner Haut kostete. Sobald sie es vermochten, standen sie wieder auf und machten sich hinkend und einander stützend hinterher. Beide schwiegen.
    Der Weg zwischen den Bäumen hindurch fiel ihnen leichter als dem Einhorn, denn in der Zwischenzeit war der Stier hiergewesen. Molly und der Zauberer kletterten über große Baumstämme, die nicht nur umgerissen, sondern bis zur Hälfte in den Boden gestampft waren; auf allen Vieren krochen sie um Löcher und Gruben herum, deren Tiefe sie in der Dunkelheit nicht ermessen konnten. Benommen dachte Molly: ›Kein Huf kann sie gemacht haben, die Erde selbst muss vor der Last des Stieres zurückgeschreckt sein.‹ Sie dachte an das Einhorn, und ihr Herz erbleichte.
    Als sie aus dem Wald kamen, sahen sie es – weit weg auf der Ebene, ein Flaus weißen Wassers, der auf dem Winde trieb, im grellen Glanz des Stieres fast unsichtbar. Molly Grue, von Furcht und Müdigkeit verwirrt, glaubte, die beiden bewegten sich wie Sterne und Steine durchs Weltall: immerfort fallend, immerfort folgend, für immer allein. Nie würde der Rote Stier das Einhorn einholen, nicht bevor das Heute das Morgen einholte, der Anfang das Ende. Molly lächelte zuversichtlich.
    Doch der Flammenschatten schob sich über das Einhorn, bis er es ganz einzuhüllen schien. Es bäumte sich auf und wich zur Seite, sprang in eine andere Richtung – nur um auch dort den Roten Stier vor sich stehen zu sehen. Mit gesenktem Kopf stand er da, von seinen Lefzen troff Donner. Wieder und wieder brach es aus, wich zurück und zur Seite, tat listige kleine Sprünge, hierhin und dorthin; und jedesmal brachte der Stier es zum Stehen, indem er einfach reglos vor ihm stand. Er griff nicht an, er versperrte ihm nur alle Wege, bis auf einen.
    »Er treibt es«, sagte Schmendrick leise. »Wollte er es töten, so hätte er das schon getan. Er treibt es dorthin, wohin er auch die anderen getrieben hat: zum Schloss, zu Haggard. Weshalb nur?«
    Molly sagte: »Tu was!« Ihre Stimme klang seltsam ruhig und beiläufig, und der Zauberer antwortete ihr im gleichen Ton: »Es gibt nichts, was ich tun könnte.«
    Noch einmal floh das Einhorn, erbärmlich unermüdlich, und der Rote Stier ließ ihm Raum genug zum Laufen, aber keinen zum Wenden. Als es ihm zum dritten Mal gegenüberstand, war es so nah, dass Molly sehen konnte: Seine Hinterbeine zitterten wie die eines geängstigten Hundes. Dann stellte es sich zum Kampf. Böse stampfte es auf, legte seine kleinen mageren Ohren an. Doch es vermochte nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben, und sein Horn erstrahlte nicht wieder. Es duckte sich vor dem Gebrüll des Stieres, das den Himmel erschauern und krachen ließ, aber es wich keinen Schritt zurück.
    »Bitte, bitte tu etwas!«, sagte Molly Grue. »Bitte!«
    Schmendrick sah sie an, mit einem Gesicht, das vor Hilflosigkeit verzerrt war. »Was soll ich tun? Was kann ich mit meiner Magie ausrichten? Karnickel aus dem Hut holen, Pfennige verschwinden lassen oder Steine in ein Omelett verwandeln? Das würde dem Stier sicherlich Spaß machen! Oder soll ich vielleicht den Trick mit den singenden Orangen versuchen? Ich werd probieren, was immer du vorschlägst, denn nichts wäre mir lieber, als etwas Praktisches zu tun.«
    Molly gab ihm keine Antwort. Der Stier kam näher, und das Einhorn duckte sich, immer tiefer, bis es zu zerbrechen drohte. Schmendrick sagte: »Ich könnte es vielleicht in ein anderes Wesen verwandeln, in ein Tier, das zu gering ist, um von dem Stier beachtet zu werden. Doch nur ein so großer Magier wie Nikos, der mein Lehrer war, hätte die Macht dazu. Ein Einhorn verwandeln – jemand, der das fertigbringt, der kann mit den Jahreszeiten jonglieren und die Jahre wie Spielkarten durcheinandermischen. Doch dazu habe ich nicht mehr Macht als du; sogar weniger, denn du kannst es berühren, und ich kann

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