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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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keinen hinaus – außer am Roten Stier vorbei.« Ein schwerer, brackiger Wind erhob sich.

13

    er Weg war so breit, dass sie alle hätten nebeneinander gehen können, aber sie zogen im Gänsemarsch dahin. Die Lady Amalthea schritt voran, weil sie es so wollte; Prinz Lír, Schmendrick und Molly Grue richteten sich nach dem Leuchten ihres Haares. Nur der Lady Amalthea ging kein Licht voran. Doch schritt sie so leicht dahin, als wäre sie schon früher hier gewesen.
    Sie hatten nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden. Der kalte Wind und der ihm beigemischte faule Geruch schienen Wirklichkeit zu sein, und die Finsternis ließ sie viel unwilliger passieren, als die Uhr es getan hatte. Der Weg besaß Realität genug, um ihre Füße weh und wund zu stoßen, sie bisweilen mit Steinen und Erdmassen, die von den Höhlenwänden herabgebröckelt waren, fast zu erdrücken; doch sein Verlauf war nur in einem Traume möglich: Verdreht und schief, sich krümmend und kräuselnd, wellte und wand er sich in die Nacht hinein. Bald fiel er schroff ab, bald stieg er sanft an, hier bauchte er sich aus, dort verengte er sich, formte Schleifen und Schnecken, die sie wieder zurückzuführen schienen, zurück unter die Schlosshalle, in der König Haggard zwischen einer geborstenen Uhr und einem zu Staub zerfallenen Schädel wütete. ›Hexenwerk‹, dachte Schmendrick, ›und nichts von Hexenhand ist letztendlich von Bestand.‹ Dann setzte er hinzu: ›Doch dies muss das letzte sein; wenn es nicht das letzte ist, wird uns dieser Spuk überwältigen.‹
    Während sie so dahinstolperten, gab er Prinz Lír hastig einen Bericht von ihren Abenteuern; er begann mit seiner eigenen, seltsamen Lebensgeschichte und seinem noch seltsameren Geschick, berichtete vom Untergang der Mitternachtsmenagerie und von seiner Flucht mit dem Einhorn, vom Zusammentreffen mit Molly Grue, von ihrer Wanderung nach Hagsgate, und vergaß auch nicht die Geschichte Drinns von dem zweifachen Fluch auf Stadt und Schloss. Dann schwieg er, denn jenseits lag die Nacht des Roten Stieres, eine Nacht, die im Guten wie im Bösen magisch enden würde – und mit einem nackten Mädchen, das in seinem Körper kämpfte wie eine Kuh im Treibsand. Schmendrick hoffte, den Prinzen interessiere die eigene heldische Geburt mehr als die Herkunft der Lady Amalthea.
    Prinz Lír staunte argwöhnisch – ein schwieriges Kunststück – und sagte: »Ich wusste seit langem, dass der König nicht mein leiblicher Vater ist. Dennoch setzte ich alles daran, ihm ein guter Sohn zu sein. Ich bin der Feind all derer, die sich gegen ihn verschwören, und es braucht mehr als das Funkeln einer Krone, um mich auf seinen Sturz sinnen zu lassen. Was Einhörner betrifft, so bin ich sicher, dass es keine mehr gibt. Und ich weiß, dass König Haggard niemals eines gesehen hat. Wie könnte irgendein Mensch so traurig und freudlos wie König Haggard sein, wenn er auch nur einmal in seinem Leben ein Einhorn gesehen hätte! Ganz zu schweigen von Tausenden bei jeder Flut. Und wenn ich sie nur ein einziges Mal gesehen und niemals wieder…« Verwirrt verstummte er, denn er spürte, dass seine Worte zu einem Leid hinführten, von dem es keine Rückkehr gab. Mollys Nacken und Schultern lauschten gebannt, doch wenn die Lady Amalthea den beiden Männern zuhörte, so ließ sie es sich in keiner Weise anmerken.
    »Hat der König nicht irgendwo in seinem Leben eine verborgene Freude?«, forschte Schmendrick. »Hast du nie eine Spur davon bemerkt, wirklich nie einen Schimmer dieser Freude in seinen Augen gesehen? Ich habe es. Denk drüber nach, Prinz Lír.«
    Der Prinz schwieg, und sie schlängelten sich tiefer hinein in die widerliche Finsternis. Manchmal konnten sie nicht unterscheiden, ob sie bergauf oder bergab gingen, ob der Weg wieder eine Biegung machte, bis sie mit ihren Gesichtern an eine rauhe Steinwand stießen. Von dem Stier war nicht das geringste Geräusch, nicht ein Schimmer seines verderblichen Lichtes zu bemerken. Doch als Schmendrick sein beschlagenes Gesicht abwischte, blieb der Geruch des Stieres an seinen Fingern hängen.
    Prinz Lír sagte: »Manchmal, wenn er vom Turm herunterkommt, liegt etwas auf seinem Gesicht. Nicht gerade ein Leuchten, aber eine Helligkeit. Da fällt mir ein: Als ich klein war, sah er niemals so aus, weder wenn er mich anblickte, noch wenn er etwas anderes betrachtete. Und ich hatte einen Traum.« Er ging sehr langsam und schlurfend. »Den gleichen Traum, wieder und wieder.

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