Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
ihm den Todesstoß zu versetzen, aber es konnte ihn nicht erreichen. Es war, als stoße es nach einem Schatten oder nach einer Erinnerung.
    Kampflos zog sich der Rote Stier zurück, bis ihn das Einhorn an den Rand des Wassers getrieben hatte. Dort blieb er stehen. Die Flut umspülte seine Hufe, der Sand unter ihnen gab nach. Er kämpfte nicht, und er floh nicht, da erkannte das Einhorn, dass es ihn nicht besiegen konnte. Dennoch machte es sich für einen neuen Angriff bereit, während er verwundert knurrte.
    Für Molly Grue war die Welt in diesem gläsernen Moment erstarrt. Sie sah, als stünde sie auf einem Turm, der höher war als der Turm König Haggards, hinab auf einen fahlen Streifen Strand. Spielzeugmann und Spielzeugfrau starrten mit zusammengekniffenen Augen auf einen tönernen Stier und ein winziges elfenbeinernes Einhorn, vergessene Spielsachen. Da lag noch eine Puppe, halb im Sand vergraben. Und dort stand eine Sandburg, mit einem Steckenkönig auf einem schiefen Turm. ›Im nächsten Moment wird die Flut alles verschlingen, und nichts bleibt als die schlappen Strandvögel, die im Kreise hüpften.‹
    Dann packte Schmendrick sie und schüttelte sie, bis sie wieder neben ihm stand. »Molly!« rief er. Weit draußen auf dem Meer zeigten sich Spritzwellen, lange schwere Brecher rollten heran, weißer Schaum über grünen Herzen; sie zerbarsten an den Sandbänken und schleimigen Felsen zu Gischt, raspelten mit einem Laut wie Feuer den Strand herauf. Die Vögel flogen in schreienden Klumpen auf, doch ihre kreischende Wut ging in dem Brausen der Wellen unter, als wären es Nadeln. Und in der Weiße, ein Teil der Weiße, aus dem aufgewühlten Wasser erblühend, wölbten sich ihre Leiber; Leiber, die sich mit den gemaserten Marmorhöhlen der Wogen bogen. Ihre Mähnen und Schweife, die feinen Bärte der Männchen, sie leuchteten blendend hell, und ihre Augen waren so dunkel und diamanten wie die tiefe See. Und das helle Funkeln der Hörner, das perlmuttene Funkeln und Leuchten der Hörner! Wie regenbogenschimmernde Masten auf silbernen Schiffen kamen die Hörner hereingeritten.
    Doch die Einhörner trauten sich nicht an Land, solange der Stier dastand. Sie schlingerten in dem seichten Wasser, zuckten umher wie zu Tode erschrockene Fische, wenn das Netz eingeholt wird. Sie gehörten nicht mehr der See an, sie waren ausgespien. Jede Woge trug hundert heran, schleuderte sie gegen die, die sich schon dagegen sträubten, an Land gespült zu werden; sie schlugen ungestüm aus, bäumten sich auf und stampften, bogen ihre langen wolkigen Hälse weit zurück.
    Das Einhorn senkte seinen Kopf noch einmal und warf sich gegen den Stier. Wäre er Fleisch und Blut oder ein luftgeborener Spuk gewesen – der Anprall hätte ihn wie eine faule Frucht zerplatzen lassen. Er aber wendete sich achtlos ab und watete langsam ins Meer. Die Einhörner im Wasser zappelten wild, um ihn vorbeizulassen, traten und peitschten die Brandung zu einer trüben Gischt, die ihre Hörner zu Regenbogen verwandelte. Strand und Kliff und König Haggards ganzes Reich seufzten erleichtert auf, als das Gewicht des Stieres nicht mehr auf ihnen lastete.
    Er watete weit hinaus, bevor er zu schwimmen begann. Die gewaltigsten Wellen reichten ihm nur bis zu den Hechsen, und die furchtsame Flut lief vor ihm davon. Als er sich schließlich in die Wogen sinken ließ, da richtete sich hinter ihm eine Sturzsee auf, eine schwarzgrüne Wand, tief, glatt und hart wie der Wind. Lautlos zog sie sich zusammen, faltete sich von einem Ende des Horizontes bis zum anderen, bis sie für einen Moment die gedrungenen Schultern und den gewölbten Rücken des Stieres verbarg. Schmendrick hob den toten Prinzen auf, rannte zusammen mit Molly zum Kliff. Die Sturzsee fiel in sich zusammen wie ein Wolkenbruch schwerer Ketten. Dann kamen die Einhörner aus dem Meer. Molly konnte sie nie deutlich sehen, es waren Licht und Laut, die sie ansprangen und betäubten. Sie war weise genug, um zu wissen, dass es keinem Sterblichen vergönnt ist, alle Einhörner dieser Welt zu sehen, und so versuchte sie, ihr eigenes Einhorn zu finden und nur dieses anzuschauen. Aber es waren ihrer zu viele, und sie waren zu schön. Blind wie der Stier ging sie ihnen entgegen und streckte die Arme nach ihnen aus.
    Die Einhörner hätten sie sicherlich niedergerannt, so wie der Rote Stier Prinz Lir umgerannt hatte, denn sie waren trunken vor Freude. Aber Schmendrick sprach, und sie strömten links und recht von den

Weitere Kostenlose Bücher