Das letzte Einhorn
ihn gehört hatte oder nicht. Schmendrick träumte, das Einhorn käme und stünde Im Licht des aufgehenden Mondes neben ihm. Der schwache Nachtwind hob und verwehte seine Mähne, und der Mond beschien seinen kleinen Kopf: ein aus Schneekristallen getriebenes Kunstwerk. Er wusste, dass es ein Traum war, dennoch war er überglücklich, es zu sehen. »Wie schön du bist!« rief er. »Ich habe es dir nie gesagt.« Er wollte sich erheben, um die anderen zu wecken, doch die Augen des Einhorns riefen ihm eine Warnung zu, die so deutlich war wie zwei ängstliche Vögel; und er wusste, dass bei der geringsten Bewegung er selbst erwachen und das Einhorn verschwinden würde. Deshalb sagte er nur: »Ich glaube, sie lieben dich mehr als ich, obwohl ich getan habe, was ich vermochte.«
»Darum«, sagte das Einhorn, und er wusste nicht, worauf es antwortete. Er lag, ohne sich zu rühren, hoffte, sich beim Erwachen noch genau an die Form seiner Ohren erinnern zu können. »Du bist jetzt ein wirklicher, sterblicher Zauberer, wie du es dir immer gewünscht hast. Macht es dich glücklich?«
»Ja«, sagte er mit leisem Lachen. »Ich bin nicht wie der arme Haggard, der seines Herzens Verlangen verlor, weil er es besitzen wollte. Doch gibt es solche und solche Zauberer, schwarze Magie und weiße Magie, und die unendlich vielen Schattierungen dazwischen. Und ich weiß jetzt, dass sie alle einen Ursprung haben. Ob ich mich entscheide, das zu sein, was die Menschen einen guten und weisen Zauberer nennen, einer, der Helden hilft, der Hexen, verruchten Königen und unvernünftigen Eltern das Handwerk legt, der Regen macht, Keuchhusten und Drehkrankheit kuriert, und Katzen von den Bäumen holt – oder ob ich mich für die Retorten entscheide, für Elixiere und Essenzen, für die Pülverchen und Kräuter, Salben und Säfte, die tödlichen Gifte und dreifach verschlossenen Hexenfolianten, in Häute gebunden, deren Herkunft besser ungenannt bleibt, für die in finsterer Kammer gelb sich zusammenziehenden Nebel und die süß darin lispelnden Stimmen: Das Leben ist kurz, und wie vielen kann ich helfen oder Harm antun? Ich habe endlich zu meiner Macht gefunden, aber die Welt ist immer noch zu schwer, als dass ich sie bewegen könnte – auch wenn mein Freund Lir anders darüber denken mag.« Und er lachte wieder im Traum, diesmal ein wenig traurig.
Das Einhorn sagte: »Das ist wahr. Du bist ein Mensch, und Menschen vermögen nichts von Bedeutung.« Doch seine Stimme klang verhalten und bedrückt. »Für welche Magie hast du dich entschieden?«
Da lachte der Zauberer zum dritten Mal. »Oh, es wird die gute Zauberei sein, ganz bestimmt, denn sie würde dir mehr Freude bereiten. Ich glaube nicht, dass wir uns jemals wiedersehen, aber ich werde versuchen, das zu tun, was dir gefiele. Und du, wo wirst du für den Rest meines Lebens sein? Ich dachte, du seist schon in deinen Wald heimgekehrt.« Das Einhorn bewegte sich, und der jähe Sternenglanz seiner Schultern ließ all sein Gerede über Zauberei wie Sand in der Kehle schmecken. Motten und Mücken und andere Nachtinsekten, zu gering, um einen Namen zu tragen, umtanzten spielerisch sein Horn. Das Einhorn sah darob nicht lächerlich aus, sondern die meisten der Geflügelten sahen dieser Huldigung wegen weise und lieblich aus. Mollys Katze strich um seine Vorderbeine.
»Die anderen sind in ihre alten Wälder zurückgekehrt, jedes für sich allein; und die Menschen werden ihrer nicht viel leichter ansichtig werden als zu der Zeit, wo sie im Meer sich tummelten. Ich werde auch in meinen Wald zurückkehren, aber ich weiß nicht, ob ich dort irgendwo zufrieden leben werde. Ich bin sterblich gewesen, und ein Teil von mir ist es noch. Ich bin voller Tränen, voller Sehnsucht und Todesfurcht, doch kann ich nicht weinen; ich begehre nichts, und ich kann nicht sterben. Ich bin nicht mehr wie die anderen, denn keinem Einhorn war es je beschieden, zu bedauern. Aber ich tue es, ich bedaure.«
Schmendrick verbarg wie ein Kind sein Gesicht, obwohl er ein mächtiger Magier war. »Es tut mir leid, es tut mir leid«, murmelte er in seine Fäuste. »Ich habe dir Böses getan, so wie Nikos es dem anderen Einhorn getan – in der gleichen guten Absicht, und wie er ohne die Möglichkeit, es ungeschehen zu machen. Mammy Fortuna und König Haggard und der Stier, alle drei haben besser an dir gehandelt als ich.«
Doch das Einhorn antwortete ihm sanft und lind: »Meine Gefährten sind frei, kein Kummer wird so lange in mir
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