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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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seine Männer zu nehmen, die unberitten waren und dennoch während der gesamten Reise wunderbarerweise niemals ermüdeten. Molly merkte bald, dass der Zauberer trödelte, um König Lir Zeit und Gelegenheit zu geben, sein Reich lang und aufmerksam zu betrachten. Zu ihrer eigenen Überraschung entdeckte sie, dass sich der Anblick des Landes lohnte. Der Frühling hielt allmählich Einzug in das öde Land, das früher Haggard gehörte. Ein Fremder hätte den Wandel nicht bemerkt, doch Molly sah, dass die ausgetrocknete Erde sich mit einem rauchzarten Grün überzog. Kümmerliche, knorrige Bäume, blütenlos seit Anbeginn, trieben Knospen, so behutsam, wie eine Armee ihre Kundschafter vorschickt. Lang vertrocknete Flüsse begannen in ihren Betten zu rauschen und brausen, und überall rief kleines Getier sich fröhlich zu. Gerüche trieben vorüber in Schwaden und Bändern, braunes Gras und schwarzer Schlamm, Honig und Walnuss, Minze und Heu, verfaulendes Apfelbaumholz. Selbst die Nachmittagssonne besaß den zarten, nasenkitzelnden Duft, der Molly wohlbekannt war. Sie ritt an Schmendricks Seite, sah dem sachten Frühlingseinzug zu und dachte darüber nach, wie er in ihr Einzug gehalten hatte: spät, aber dauerhaft. »Einhörner sind hier durchgekommen«, wisperte sie Schmendrick zu. »Ist das der Grund dafür, oder König Haggards Fall und des Stieres Verschwinden? Was ist es nur, was hier geschieht?«
    »Alles«, antwortete Schmendrick, »alles, und alles zur gleichen Zeit. Es ist nicht ein Frühling, sondern fünfzig; nicht ein oder zwei entschwundene Schrecken, sondern tausend kleine Schatten wurden von dem Land genommen. Warte ab und halte die Augen offen.«
    Und auf Lir gemünzt, sagte er: »Es ist nicht der erste Frühling, der je in dieses Land gekommen ist. Vor langer Zeit war es ein gutes Land, und es bedarf nur eines guten Königs, um wieder so zu werden. Schau, wie es vor deinen Augen grün und weich wird!«
    König Lir sagte nichts, doch während des Rittes schweiften seine Augen links und rechts umher, konnten nicht anders, als das Reifen ringsum wahrzunehmen. Sogar im Tal von Hagsgate – voll böser Erinnerungen – sprossen alle möglichen Blumen: Akelei und Glockenblume, Lavendel und Lupine, Fingerhut und Schafgarbe. Malven milderten die alten, tief eingetretenen Spuren des Stieres.
    Als sie jedoch am späten Nachmittag nach Hagsgate kamen, harrte ihrer ein seltsamer und finsterer Anblick. Die gepflügten Felder waren zertrampelt und verheert, die schönen Obstgärten und Weinberge verwüstet, weder Hain noch Baum war stehengeblieben. Selbst der Stier hätte keine vollkommenere Verwüstung bewirken können. Molly Grue dachte, fünfzig Jahre gespeicherten Leides hätten Hagsgate in einer Sekunde heimgesucht, während ebenso viele Lenze das übrige Land wärmten. Die zertrampelte Erde sah im Abendlicht grau und aschen aus. König Lir sagte leise: »Was ist hier geschehen?«
    »Reite weiter, Majestät«, erwiderte Schmendrick. Die Sonne ging gerade unter, als sie durch das eingestürzte Stadttor von Hagsgate ritten und ihre Pferde langsam durch die Gassen lenkten, die verstopft waren mit Habseligkeiten aller Art, mit Brettern und zerbrochenem Glas, Mauertrümmern und Fenstern, Kaminen, Stühlen, Küchengeräten, Dächern, Badewannen und Betten, Simsen und Kommoden. Jedes Haus in Hagsgate war zerstört, alles Zerbrechliche zerbrochen; die Stadt sah aus, als hätte ein Riese sie zertreten.
    Die Bewohner saßen auf ihren Haustreppen, wo immer sie diese wiedergefunden hatten, und betrachteten die Trümmer. Sie hatten früher das Aussehen von Hungerleidern gehabt, mitten im Überfluss-, doch wirkliches Leid ließ sie nun beinah erleichtert aussehen und um kein Jota ärmer. Sie bemerkten Lir kaum, als er heranritt, bis er sagte »Ich bin der König. Was ist hier geschehen?«
    »Ein Erdbeben«, murmelte ein Mann benommen, doch ein anderer widersprach ihm-»Es war ein Sturm, ein Nordoster, direkt vorn Meer her. Er hat die Stadt in Stücke gerüttelt, Hagel fiel wie Hufschlag.« Ein dritter bestand darauf, eine Flutwelle sei über Hagsgate hinweggegangen, eine Welle so weiß wie Alabaster, so schwer wie Marmor, die keinen ertränkt und alles zerschmettert. König Lir lauschte ihnen, grimmig lächelnd.
    »Hört!« rief er, als sie mit ihren Berichten fertig waren. »König Haggard ist tot. Sein Schloss ist nicht mehr. Ich bin Lir, Hagsgates Sohn, den man bei seiner Geburt ausgesetzt hat, um die Erfüllung des

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