Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
»Ende der Ansprache. Auf eure Positionen. Wahrscheinlich werden wir uns nicht mehr wiedersehen. Viel Glück!«
Kapitel 68
Auf den Mauern von Konstantinopolis
29. Mai 1453
Kurz nach sechs Uhr morgens
In geduckter Haltung hetzen Cesare und ich mit unseren Bravi und den beiden Johannitern an den Fässern mit Griechischem Feuer, den Bottichen mit heißem Pech und den großen Steinen vorbei und lassen die Barrikade hinter uns zurück, um unseren Kommandoposten auf der Mauer einzunehmen.
Ich blicke über die mit Sandsäcken bewehrte Brüstung nach unten: Unsere Männer, Griechen und Italiener Seite an Seite mit Franzosen, Kastiliern, Portugiesen, Bulgaren, Ungarn, Deutschen, Armeniern, Tscherkessen und sogar einigen Türken, die sich gestern haben taufen lassen, sind durch die Tore der Innenmauer bis zur eingestürzten und durch die Barrikade verstärkten Außenmauer und weiter bis zu dem mit Leichen angefüllten Graben vorgerückt und verteilen sich dort auf einer Länge von tausend Schritten.
Hinter den Kämpfern zügeln die Reiter ihre Pferde. Sie können an der Kampflinie entlanggaloppieren. Die Zugänge zur Stadt sind verriegelt, die Fluchtwege sind abgeschnitten. Die Männer dort unten sind zu allem entschlossen, die Türken aufzuhalten. Entweder werden sie siegen, oder sie werden sterben.
Ihnen stehen Mehmeds Krieger gegenüber: Griechen, Bulgaren, Ungarn und Deutsche, die die Türken auf ihren ausgedehnten Beutezügen gefangen genommen und zum wahren Glauben ›bekehrt‹ haben. Auch sie können der Schlacht, die sich rasch zu einem Gemetzel entwickeln wird, nicht entkommen, denn hinter ihnen stehen die Türken mit ihren Kilij-Schwertern und treiben sie vorwärts in den sicheren Tod im Griechischen Feuer.
Da ist Konstantin, mit Francisco und Theophilos an seiner Seite! Er zieht sein Schwert und blickt hinüber zu Mehmed.
Vor seinem Purpurzelt steigt der junge Padi ş ah auf seinen unruhig tänzelnden Hengst. Vermutlich trägt Mehmed ein golddurchwirktes Gewand, das mit Koranversen bestickt ist.
»Komm weiter!«, ruft Cesare, packt meine Hand und zerrt mich hinter sich her zur Blachernen-Mauer. Vor uns laufen Fra Galcerán und Fra Diniz.
Während ich ihm folge, blicke ich immer wieder über seine Schulter nach vorn zum Goldenen Horn, wo sich türkische, venezianische und genuesische Schiffe auf ihre Kampfpositionen zubewegen.
Keine Spur von der versprochenen päpstlichen Flotte, denke ich verbittert.
Das letzte Mal, dass einem Papst die geballte Faust ins Gesicht gerammt wurde, war während des Attentats von Anagni. Ein Verwandter von mir, Sciarra Colonna, hat Papst Bonifatius derart eine geknallt, dass Seine Heiligkeit rückwärts vom Thron kippte. Sciarras Bravi waren 1303 in die päpstliche Sommerresidenz eingedrungen, hatten den Papst gefangen genommen und aufgefordert, von seinem Amt zurückzutreten. Bonifatius trotzte ihnen, und dem Hitzkopf Sciarra Colonna rutschte die Hand aus.
Der Engel der Sanftmut hat nicht an Sciarras Wiege gestanden. Aber an meiner auch nicht. Denn da stand nach Einschätzung der Inquisitoren, die mich vor sechs Jahren zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt haben, Satan höchstselbst, um seine ›geliebte Tochter‹ mit dem Feuer der Hölle zu taufen.
Sollte ich diese Schlacht überleben und nach Rom zurückkehren, kann Papst Nikolaus sich auf was gefasst machen. Den Abdruck meiner Hand wird Tommaso Parentucelli noch drei Tage lang im Spiegel sehen, während er über meine hitzigen Worte nachdenkt: »Kämpfe, Tommaso, oder tritt als Papst zurück! Ernenne Prospero zu deinem Nachfolger! Im ersten Wahlgang des Konklaves vor sechs Jahren hatte Kardinal Colonna zehn von zwölf zur Wahl nötige Stimmen, Kardinal Capranica, der Prospero nach dem zweiten Wahlgang seine Stimmen überschreiben wollte, fünf und du nur drei. Tritt zurück, Tommaso, und lass einen Jüngeren, Stärkeren und Entschlosseneren an die Macht: einen Colonna.«
Cesare und ich stoßen beinahe einen orthodoxen Priester um, der eine Ikone des Pantokrators in die Höhe hält und die umstehenden Griechen segnet. »Steh uns bei, o Herr, damit wir nicht untergehen und …«
»Sturmangriff!«, unterbricht ein entsetzter Aufschrei sein Gebet. »Die Türken kommen!«
Der Priester, dem Gewand nach ein orthodoxer Erzbischof, verstummt und hält die vergoldete Ikone wie einen Harnisch vor die Brust. Ich ziehe meinen Dolch und drücke ihm die Klinge in die Hand. »Verteidigt Euer Leben, Erzbischof, und die Seelen
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