Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
über die Mauerbrüstung auf die heranstürmenden Türken. Die Musik der türkischen Pauken und Trompeten und der rhythmische Gesang der anrückenden Janitscharen ist trotz des Glockenläutens und des Kanonendonners leise zu hören. Ich nicke, dann drehe ich mich zu meinen Männern um, die einige Schritte entfernt stehen.
Der Tod hat Einzug gehalten. Er ist hier, ganz nah bei uns, und er hat Mehmeds Gesicht. Nur noch drei meiner Jungs sind am Leben. Federico, Giorgio und Antonio. Bei Cesares Bravi ist es nicht viel anders. Er hat nur noch zwei Gefolgsleute. Ich winke sie heran.
Die fünf Männer bleiben vor mir stehen und sehen mich abwartend an. Auf ihren schweißnassen Gesichtern schimmert die Entschlossenheit, die Feinde mit letzter Kraft noch aufzuhalten, mit dem letzten Herzschlag, mit dem letzten Atemzug noch ums Überleben zu kämpfen. Aber unter dieser Maske sehe ich in ihren glanzlosen geröteten Augen die Todesangst. Sie wissen, dieser Tag ist der letzte.
Mit Donnergetöse, das den Boden unter unseren Füßen schwanken lässt, schlägt wenige Schritte entfernt eine Kanonenkugel in die Mauer. Steinsplitter, Holz und Sand prasseln auf uns nieder. Ein Stein donnert gegen meinen Helm, prallt gegen meine verletzte Schulter und fällt zu Boden. Ein Teil der Mauer bricht in sich zusammen.
Dann ist es plötzlich still.
Angespannt lauschen wir dem Dröhnen der Kirchenglocken, das die Morgenbrise von der Stadt heranweht.
Die türkischen Kanonen schweigen.
Nur der Gesang und die Pauken und Trompeten sind zu hören. Dazu wiehernde Pferde und gebrüllte türkische Befehle. Und Schmerzensschreie.
Ich blicke nach Osten, in das erste zart rosen- und malvenfarbene Licht der Morgendämmerung, das bald zum flammenden Inferno werden wird, und atme tief durch.
Die Sonne geht auf.
Der letzte Tag der Apokalypse bricht an.
»29. Mai 1453, gegen sechs Uhr morgens. Jungs, es ist so weit«, sage ich mit einer Stimme, deren Festigkeit und Ruhe, ja deren Todesmut mich selbst überraschen. Denn mein Herz schmerzt so sehr, dass mir das Sprechen Mühe bereitet. »Seit fünfzig Tagen leben wir im Schatten des Todes. Seit fünfzig Tagen fragen wir uns, wie lange wir noch die Angst, die Erschöpfung, den Hunger, den Durst und den Schmerz ertragen müssen. Und die unerträgliche Hoffnungslosigkeit, weil der Papst uns nicht retten wird. Es ist so weit, meine Freunde. Wir kämpfen seit halb zwei. Wir sind müde. Zweitausend tapfere Verteidiger sind noch übrig. Wie lange können wir den hunderttausend heranrückenden Angreifern noch standhalten?«
»Nur noch Stunden«, murmelt Federico, den Blick wie zum Gebet gesenkt. Dann sieht er mich erschrocken an und nuschelt: »Entschuldigung, ich wollte nicht …«
»Schon gut.« Ich winke ab.
Mein linker Arm fühlt sich an wie tot. Er ist ganz steif von der Verletzung an der Schulter, die ich gestern erlitten habe, als ein Steinsplitter unter meinen Harnisch drang. Von Stunde zu Stunde wird der Schmerz unerträglicher.
»Ihr wisst, ich hasse lange Reden. Ich mache es also kurz. Unterschätzt nicht den Feind. Er hat die bessere Ausrüstung, er ist gut ausgebildet, und er ist ausgeruht. Wir alle haben zu wenig Schlaf gehabt. Einige von uns sind seit zwei Tagen und Nächten auf den Beinen. Viel Glück. Gott sei mit euch.«
»Und mit Euch, Euer Gnaden«, murmelt Cecco, einer von Cesares Bravi. Seine Stimme klingt heiser.
»Noch Fragen?«
Alle schütteln den Kopf.
»Lasst uns beten.« Die Männer neigen die Köpfe. »Herr, beschütze uns …« Ein ohrenbetäubender Kanonendonner übertönt meine Worte. »… wie wir die Menschen beschützen, die wir von Herzen lieben. Wir beten darum, dass wir wohlbehalten wieder nach Hause zurückkehren. Und dass wir unsere Familien wiedersehen. Amen.«
Ein brennendes Gefäß mit Griechischem Feuer zischt über unsere Köpfe hinweg und fällt vor den Wehrmauern in die Reihen der heranrückenden Yeniçeriler. Ein entsetzliches Geschrei übertönt die feurige Marschmusik.
»Vernichten wir sie!«, murmelt Cecco und ballt die Fäuste.
»Gebt uns Euren Segen!«, bittet mich Federico.
»Ich bin kein Priester.«
»Als päpstliche Gesandte seid Ihr die Sonderbevollmächtigte Seiner Heiligkeit im Rang eines Kardinallegaten, Euer Eminenz.«
Ich gebe nach. »Kraft meines Amtes, das Papst Nikolaus mir verliehen hat, spreche ich den Segen über euch.« Es ist die Kurzfassung des Urbi et Orbi: »Der allmächtige Gott erbarme sich euer. Er vergebe euch all eure
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