Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Straße zur Seemauer werden geplündert, die Straßen sind rot von Blut, der Weg zum Hafen ist mit Leichen gepflastert. Männer, Frauen und Kinder werden auf offener Straße vergewaltigt oder gepfählt. Die Kirchen werden geplündert, die Ikonen zertrümmert, die Reliquien geschändet, die Evangeliare verbrannt.
Mit dem treuen Al-Mansur wäre ich, tief über die wehende Mähne gebeugt, einfach durch das wüste Gemetzel hindurchgaloppiert. Aber so?
Wir müssen das Gassengewirr hinter den Palästen durchqueren.
Die Wohnbezirke abseits der großen Prachtstraßen sind seit dem unseligen Kreuzzug von 1204 und der Plünderung und Brandschatzung durch die christlichen Kreuzfahrer ziemlich heruntergekommen. Viele der einsturzgefährdeten Ziegelhäuser stehen so dicht beisammen, dass kein Tageslicht in die Gassen fällt. Es ist ein Labyrinth, das mich an Venedigs Corti, Campielli, Calli und finstere Sottopòrteghi erinnert.
Kurz darauf keuchen wir die Treppen zur Brüstung der Seemauer hinauf und spähen über die Zinnen auf das im Morgenlicht glitzernde Wasser des Goldenen Horns.
Vor der zerschossenen Mauer liegen etliche türkische Schiffe an den Molen vertäut. Türkische Soldaten gehen an Land, preschen johlend zu den offenen Seetoren vor und stürmen in die Stadt, um Konstantinopolis, das ab sofort Istanbul heißen wird, zu plündern und niederzubrennen.
Und die venezianischen und genuesischen Galeeren?
»Sie segeln auf die Sperrkette zu!«, ruft Galcerán neben mir. »Siehst du das?« Er deutet nach rechts: »Die Venezianer springen von den Schiffen auf die Flöße, auf denen die Kette befestigt ist. Sie hauen so lange drauf, bis sie bricht! Da, siehst du?«
Bebend vor Zorn und Enttäuschung beobachte ich, wie kurz darauf ein Schiff nach dem anderen in den Bosporus hinaussegelt. Ohne uns.
Fluchend schlage ich mit der Faust auf die Zinne. Mit Al-Mansur und Il Fiorentino hätte ich es geschafft. Über die türkische Pontonbrücke über das Goldene Horn, im Galopp mitten durch die heranrückenden Türken, dann den Hügel hinauf, über den Mehmed seine Schiffe ins Goldene Horn hinabsausen ließ, dann durch die Weinberge bis zum Bosporus. Dort wäre ich zu den Galeeren hinübergeschwommen, die erst hinter der Sperrkette langsam Fahrt aufgenommen hätten, um noch jemanden an Bord zu nehmen. Drei Meilen. Höchstens. Ich hätte es schaffen können. Mit den Pferden. Aber so?
»Und jetzt?«, fragt Galcerán.
»Kannst du schwimmen?«
Mit verkniffenem Gesicht starrt er auf die Leichen von Christen und Muslimen, die zu Hunderten unter uns im Wasser treiben. Auf den Molen unterhalb der Seemauer stehen noch Tausende, die verzweifelt weinend den italienischen Galeeren nachwinken. »Nein. Wieso?«
»Du lebst auf einer Insel und kannst nicht schwimmen?«, staune ich. »Ich dachte, ihr Professritter müsstet ein Jahr lang Dienst auf den Galeeren des Ordens leisten. Du weißt schon: eure Beutezüge im östlichen Mittelmeer. Ein bisschen ›Schiffe versenken‹ spielen. Und ein bisschen ›Mamelucken ärgern‹. Mich wundert’s nicht, wenn Uthman euch auf Rhodos mal ordentlich auf die Finger hauen will.«
»Ist die Ansprache urbi et orbi beendet?«
Ganz schön frech, der Kerl! »Ist sie.«
»Und? Was hast du jetzt vor?«
Ich deute das Goldene Horn entlang zum offenen Meer. »Bei der türkischen Festung Rumili Hissar ist der Bosporus nur eine halbe Meile breit. Wir schwimmen rüber nach Asien. Dann schlagen wir uns durch die türkisch besetzten Gebiete bis nach Ägypten durch. Sultan Uthman wird mir helfen. Von Akkon segeln wir nach Hause.«
»Rhodos liegt näher. Aber ich kann nicht schwimmen.«
Rhodos? Vergiss es!
»Aber rudern kannst du?«, frage ich nach.
Er nickt.
»Na also.«
»Und wo …«
»Im Hafen des Bukoleon-Palastes liegen Boote.«
»Türkische Schiffe suchen das Marmarameer ab«, protestiert er, »und der Hafen liegt auf der anderen Seite der Stadt.«
»Stimmt beides.«
»Das sind drei Meilen!«
»Eher vier. Eine Stunde, wenn wir mit unserer Beute nicht aufgehalten werden. Drei oder vier Stunden, wenn wir uns mit den Türken herumschlagen müssen.«
»Das ist Wahnsinn!«
»Habe ich dich gebeten, mich zu begleiten? Ich bin vor dir in Rom, verlass dich drauf!« Ich schultere die Tasche mit dem Mandylion und dränge mich an ihm vorbei. »Leb wohl, Galcerán. Soll ich den Papst von dir grüßen?«
Capisci? O ja, ich denke, du hast mich verstanden!
Er flucht derart wüst auf Katalanisch, dass es
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