Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
seinen Cousin Roderic de Borja y Llançol vor Lachen vom Stuhl gehauen hätte, und stampft wütend mit dem Fuß auf. Wenn Rodrigo Borgia eine seiner Anwandlungen hat, hat er genauso viel Temperament wie Galcerán.
»He, warte doch mal!«, brüllt er hinter mir her, während ich schon die Treppe hinunterhetze.
Ein stures Pack, diese Katalanen!
Kapitel 80
In den Straßen von Konstantinopolis
29. Mai 1453
Viertel nach neun Uhr morgens
Hinein in die Hölle! Mitten durch das Fegefeuer aus Vergewaltigungen, Plünderungen und blutigen Gemetzeln!
Was Galcerán und ich auf dem Weg zur Apostelkirche erleben, ist ein Kaleidoskop des Bösen: eingestürzte Ruinen, brennende Trümmer, zerschmetterte Leichen, halb unter dem Schutt begraben, vergewaltigte Frauen, die Kehle durchgeschnitten, kleine Kinder, nackt und blutverschmiert, ihre zarten Körper zerhackt wie Brennholz fürs Höllenfeuer, Männer, Frauen, Kinder, Greise, alle tot, alle verstümmelt. Auch vor Priestern und Mönchen haben die Mörder nicht Halt gemacht. Vor einer Kirche stapeln sich die Leichen zu einem Scheiterhaufen, der mit brennenden Ikonen und Büchern entzündet wird.
Die Wut über diese Grausamkeiten treibt mich zur Raserei – Galcerán kann kaum noch Schritt halten mit mir. Während wir durch die brennende Stadt hetzen, nimmt ein Plan Gestalt an. Irrsinnig? Ja! Völlig absurd, ja geradezu albern. Und deshalb diskutiere ich ihn auch nicht mit Galcerán. Der fragt mich nur wieder, ob ich noch bei Trost bin.
Los, Sandra! Das Herz der Hölle ist in der Hagia Sophia!
Intermezzo 4
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach vier Uhr nachmittags
Wie in Watte gepackt, so fühle ich mich. Die Hände, die sich sanft unter meine Schultern und meine Knie schieben, und die Arme, die mich festhalten, kann ich kaum spüren. An wessen Schulter liegt mein Kopf?
Ich will etwas sagen, aber ich bringe nichts heraus, nur ein ersticktes Stöhnen. Als ob mein Herz dem Druck nicht mehr standhält. Den seelischen Qualen. Dem körperlichen Leiden. Der Angst. Der Hoffnungslosigkeit. Als ob es, gefoltert und misshandelt, verzweifelt aufseufzt.
Habe ich Schmerzen? Ja? Nein? Ich kann es nicht sagen.
»Sei ganz ruhig, Sandra!«, flüstert der Mann, den ich nicht kenne, mit einschmeichelnder, besänftigender Stimme, die mich jedoch, anstatt mich zu beruhigen, in Angst und Schrecken versetzt.
Wer ist er? Prospero? Oder Latino?
Dann kann ich plötzlich etwas Weiches um mich herum spüren. Ein Bett, ein Kissen, eine Decke. Wie warm! Wie kuschelig! Wie angenehm!
Aber ich will nicht schlafen.
Doch Prospero – oder Latino? – deckt mich zu und stopft die Bettdecke um mich herum fest.
Ein leichter Duft nach Lavendel, süß und doch bitter, überdeckt den metallischen Geruch des Blutes, der aus dem Kissen aufsteigt.
Nein, lass mich!, schreie ich, so laut ich kann.
Ich will nicht wieder stumm sein, nicht wieder starr, nicht wieder hilflos ausgeliefert.
»Sandra, bitte! Du darfst dich nicht wehren!« Prospero – oder Latino? – hält mir ein Fläschchen an die Lippen und zwingt mich, irgendetwas zu schlucken. Ein Pulver.
Es schmeckt … ja, wie schmeckt es? Bitter wie das Leben. Süß wie die Liebe. Und sanft wie der Tod.
Wie ein greller Schrei tobt der Gedanke an den Tod in meinem Kopf. Ich will den Schrei herauslassen, aber ich kann nicht. Ich will um mich schlagen, aber auch das kann ich nicht, weil er mich festhält.
Nein, bitte, ich will nicht wieder sterben.
Ich will nicht wieder in der Finsternis schweben, gefangen zwischen Leben und Tod.
Dann wird es wieder schwarz um mich, als ob sich langsam ein undurchdringlicher Nebel auf mich herabsenkt. Als ob es finster wird in mir, in meinem Herzen und in meinem Verstand.
»Ganz ruhig, Sandra.« Prospero – oder Latino? – streicht mir sanft über das Haar. »Bald ist es vorbei.«
Eiskalter Schweiß rinnt mir über das Gesicht …
Kapitel 81
In den Straßen von Konstantinopolis
29. Mai 1453
Gegen halb zwei Uhr nachmittags
… als Galcerán und ich uns schließlich der Hagia Sophia nähern. Mitten auf der Straße bleibt er stehen, um zu Atem zu kommen. Ich lege meine Hand auf seine Schulter und stütze mich auf ihn.
Die Stadt, die aussieht, als habe ein Wirbelsturm oder eine Feuersbrunst in ihr gewütet, die stinkt, als wäre sie ein Massengrab, liegt hinter uns. Vier Stunden haben wir vom Goldenen Horn bis hierher gebraucht, vorbei an der Apostelkirche, am Pantokrator-Kloster, unter dem
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