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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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verlegen.
    Er gibt mir meine Wasserflasche zurück. »Ich musste bis zur Cisterna Basilica laufen, um Wasser zu finden.«
    »Wieso?« Ich setze die Flasche an die Lippen und trinke gierig in großen Schlucken.
    »Das Wasser aus den Brunnen wollte ich nicht trinken.«
    »Leichen?«
    Er nickt. »Viele junge Frauen haben sich ertränkt, um ihrem Schicksal zu entgehen …« Er verstummt.
    Ich lege ihm die Hand auf den Arm. »Danke.«
    »Jetzt sind wir quitt.« Er sieht mich lange an. »Dass du mir Cesares Tod niemals vergeben kannst, weiß ich.«
    Ich trinke meine Flasche leer und hänge sie mir wieder an den Gürtel. Ächzend stemme ich mich hoch. »Komm jetzt!« Ich beiße die Zähne zusammen vor Schmerz. »Wir müssen in Bewegung bleiben.«
    Galcerán springt auf und reicht mir die Hand, um mir auf die Beine zu helfen.
    »Und wohin jetzt?«

Kapitel 82
    Vor der Hagia Sophia
29. Mai 1453
Kurz nach halb zwei Uhr nachmittags
    Alte Kastanienbäume säumen die Prachtstraße, auf der sich die Flüchtenden zur Hagia Sophia schieben, um dort Schutz zu suchen. Orthodoxe Priester im Brokatgewand mit brennenden Kerzen in den Händen winken die Gläubigen zum Gebet in die Kathedrale, deren purpurrote Fassade im grellen Licht dieses heißen Tages zu glühen scheint.
    Galcerán und ich lassen uns von der wogenden Menge mitreißen und stolpern, von hinten geschoben, von vorn gestoßen, zum Atrium der Hagia Sophia.
    Als ein Mönch mit einem zornigen Aufschrei auf mich losgeht und mit den Fäusten auf mich einprügelt, sodass ich stürze und beinahe zu Tode getrampelt werde, muss Galcerán mich wieder einmal retten. Er reißt mir den Helm herunter, sodass meine langen Haare herabfallen, zieht mir seinen schwarzen Habit über den Kopf, packt meine Hand und zerrt mich hinter sich her zum Atrium.
    »Nicht da lang!«
    Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um.
    Ich deute zur Orea Porta an der Südseite der wuchtig über uns aufragenden Kathedrale. »Der Eingang, der dem Kaiser und seinem Gefolge vorbehalten ist. Er ist unverschlossen.«
    Die Orea Porta, die Schöne Pforte, ist ein von außen unscheinbarer Seiteneingang, der in die Vorhalle der Krieger aus schön geädertem Marmor in Rosa, Grau und Weiß führt.
    Nach dem Zeremonienbuch des byzantinischen Hofes legte der Kaiser auf jenem Tisch dort drüben Krone und Schwert ab. Und seine Leibgarde wartete hier, bis er aus dem Gottesdienst zurückkehrte. Über der Tür zum Narthex, der Vorhalle der Hagia Sophia, prangt das Mosaik der Maria mit Kind zusammen mit Kaiser Konstantin, der ihr Konstantinopolis überreicht, und Kaiser Justinian, der ihr die Hagia Sophia darbietet.
    Die gewaltige Vorhalle aus Marmor und Goldmosaiken hat neun Türen, durch die die Fliehenden in die Basilika strömen. Das mittlere Portal ist das höchste. Es ist dem Kaiser vorbehalten, und daher jetzt geschlossen. Die Palastwachen, die hier jahrhundertelang standen, haben den Marmorboden vor der Kaisertür eingedrückt und abgewetzt.
    Galcerán folgt mir durch die erste Tür auf der rechten Seite in die Krönungskirche der byzantinischen Kaiser. Säulenarkaden trennen die Seitenschiffe vom großen Kuppelraum. Über uns erhebt sich die große Galerie, die die Kathedrale auf drei Seiten umschließt und die nur die Apsis mit dem Altarraum und der Ikonostasis freilässt. Darüber schwebt schwerelos die goldglänzende Kuppel der Hagia Sophia, die von Lichtstrahlen getragen zu werden scheint.
    Was für ein Anblick!
    Kein Wunder, dass Kaiser Justinian bei ihrer Einweihung vor fast einem Jahrtausend voller Stolz ausrief: ›Ruhm und Ehre dem Allerhöchsten, der mich für würdig hielt, ein solches Werk zu vollenden! König Salomo, ich habe dich und deinen Tempel übertroffen!‹
    Wer dieses Gotteshaus betritt, soll die himmlische Herrlichkeit erahnen. Die Pracht, die glitzernden Goldmosaiken, der schimmernde Marmor und die Strahlen des Lichts überwältigen die Gläubigen seit neunhundert Jahren. Die Kathedrale ist ein Abbild des Himmels, so wie das Byzantinische Reich ein Abbild des Reiches Gottes war.
    Doch heute kann ich beim besten Willen keinen Frieden empfinden, keinen Trost, kein Heil.
    Tausende suchen Zuflucht in der größten Kathedrale der Welt. Die Messe wird gefeiert, wobei ich nicht sagen kann, ob sie katholisch oder orthodox ist. Links beten die Menschen auf Lateinisch, rechts auf Griechisch.
    Verbittert denke ich an die Kirchenunion, zu der ich Konstantin überredet habe. Und was tut Papst Nikolaus? Nichts.

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