Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
mich immer noch mit seinem Schwert.
Absurd? Aber ja!
»Vergib mir!«, fleht er mit samtiger Stimme.
Jibrils Stimme ist warm und weich, wie eine schwere Seidendecke, in die ich mich einmummeln kann, wenn ich vor Einsamkeit friere. Wie habe ich es immer genossen, wenn er mir sein betörendes ›Ana behibek‹ ins Ohr flüsterte, wenn er mich ungestüm liebte und wenn ich seinen glühenden Atem auf meiner Haut spüren konnte, wie warmes Wasser, das an mir herabrinnt, wie die Sonnenstrahlen, die meine Haut streicheln.
Ich atme tief durch. »Was du getan hast, kann ich dir nicht verzeihen, Jibril.«
»Begnadige mich!«
Ich schüttele entschlossen den Kopf. »Nein.«
Jibril scheint innerlich zusammenzubrechen. Mit hochgezogenen Schultern, als hätte ich ihn geschlagen, lässt er seine Klinge sinken, deren Spitze mit einem glockenhellen Klingen über den Marmorboden schrappt.
Hat er denn allen Ernstes gedacht, dass ich ihn zurücknehme? Nach allem, was in Granada geschehen ist?
»Wie kann ich dir meine Treue beweisen?«, fragt er verzweifelt.
»Verschwinde einfach!«, presse ich hervor.
Er starrt mich an.
»Und nimm deinen Freund mit, bevor ich ihn töte, wie er Cesare getötet hat!«
Fra Galcerán blickt fassungslos hin und her.
»Verschwindet, alle beide! Und wagt es nicht, mich noch einmal zu bedrohen. Ihr riskiert die Exkommunikation, alle beide!«
Fra Galceráns Schwert poltert zu Boden. »Nein!«
»Doch!«, versichere ich ihm resolut. »Ihr steht mit einem Bein in der Hölle, Frater. Und die Feuer lodern.«
»Nein!«
»Noch ein Wort, Fra Galcerán, und ich trete nach!«
Meine Entschlossenheit scheint ihn zu überraschen. Damit hat er wohl nicht gerechnet.
Welches Spiel wird hier gespielt? Wer setzt hier wen ash-Shah mat?, frage ich mich und lasse meinen Geliebten und seinen Freund nicht aus den Augen. Jibril spielt mit mir, mit meinen Gefühlen, wie immer. Er verwirrt mich, er betört mich, er verführt mich, wie damals in Granada, als er in mein Bett kam, das noch warm von Yared war. Und Fra Galcerán?
Er wusste, dass Jibril noch lebt. Er wusste, was sein Freund vorhat. Er kennt seinen Text, den er wie aufs Stichwort abspult. Aber mit dem Tod seines Freundes Diniz hat er nicht gerechnet. Und nicht mit mir. Er ist verwirrt. Und hat Angst. Gut zu wissen.
Von draußen dringt leiser Gesang ins Sanktuarium: »Allahu ekber, Allahu ekber …«
Die Türken!
Mit einem Aufschrei reißt Fra Galcerán plötzlich sein Schwert hoch und wirft sich auf mich. Doch Jibril prescht vor, packt ihn an der Schulter und reißt ihn mit aller Kraft herum, sodass Fra Galceráns Klinge an mir vorbei mit voller Wucht in den schwingenden Reliquienschrein kracht. Ein Topas löst sich aus der Goldfassung und fällt klimpernd auf den Marmorboden.
»¡Galcerán, por amor de Dios!«, ruft Jibril entsetzt und zerrt seinen Freund von mir und dem Mandylion weg. »Lass sie in Ruhe!«
Schluss jetzt!
»Kraft meines Amtes und meiner Macht, die mir von Papst Nikolaus verliehen worden sind …«
»Al-Iskandra, ich bitte dich!«, fleht Jibril. »Verschone ihn!«
»… exkommuniziere ich dich, Galcerán de Borja y Llançol de Romanì. Ich scheide dich von der Gemeinschaft aller Christen. Und ich verdamme dich …«
»Um Gottes willen!«, stöhnt Jibril. »Ich flehe dich an, hör auf damit!«
»… und ich verstoße dich aus deinem Orden …«
Galcerán schüttelt fassungslos den Kopf. Damit hat er gewiss nicht gerechnet, nachdem ich ihn in Ägypten vor dem Tod am Kreuz bewahrt habe.
»… und weder dein Großmeister noch der Papst können dich jetzt noch retten.«
»O Gott, nein!«, flüstert Galcerán erschüttert.
»Allahu ekber, Allahu ekber …«
Der Gesang der Yeniçeriler ist jetzt ganz deutlich zu hören. Offenbar besetzt ein Regiment den Kaiserpalast. Es wird Zeit für mich. Vermutlich ist Mehmed mit seiner Leibgarde schon hier.
»Verschwindet, alle beide!«
Jibril zögert. »Und du?«
»Ich bringe das Mandylion nach Rom. Ich will nicht …«
Kapitel 77
In der Kapelle des Blachernen-Palastes
29. Mai 1453
Gegen acht Uhr morgens
»… dass es Mehmed in die Hände fällt. Oder Uthman, wenn es ihm und seinen Mamelucken gelingt, Rhodos zu erobern, und die allerheiligste …«
Mit einem zornigen Schrei wirft Galcerán sich auf mich, doch Jibril geht mit unerbittlicher Härte auf ihn los, fängt den Hieb, der gegen mich gerichtet ist, mit seiner Klinge ab, reißt Galcerán herum und drängt ihn ins Allerheiligste
Weitere Kostenlose Bücher