Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Valens-Aquädukt hindurch, über den Bazar bis zur Akropolis am Marmarameer.
»Wir brauchen einen Brunnen!«, krächzt Galcerán. »Wir müssen trinken.« Keuchend lässt er sich an der Gartenmauer des Patriarchats nieder und lehnt sich erschöpft dagegen. Er blickt hoch zu den Geiern, die über uns kreisen. »Und wir müssen uns ausruhen.«
Dann packt er meine schmerzende Hand und zieht mich neben sich auf den sonnendurchglühten Boden. »Lass mich deinen Arm ansehen.« Galcerán zieht meinen steifen Arm auf seinen Schoß. Als ich unwillig die Hand fortziehen will, klemmt er sie sich zwischen seine Beine und hält sie fest. »Halt bitte still.« Er schiebt den Ärmel meines Kettenhemdes hoch. »Kein Blut. Kein Zeichen einer Infektion. Tut es weh?«
»Der Arm ist steif. Wie ein morscher Ast.«
»Beantworte meine Frage!«
»Ich bin zu müde, um irgendetwas zu spüren.«
»Ich möchte mir die Schulter ansehen. Der Steinsplitter, der dich gestern verwun…«
»Nein«, wehre ich müde ab.
Galcerán nestelt an den Schnallen meines Kettenhemdes herum, bis ich ihm auf die Finger haue.
»Ich habe Nein gesagt, verdammt noch mal!«
»Weißt du eigentlich, warum wir beide so gut miteinander auskommen?«, fragt er aufgekratzt, und seine Augen blitzen.
»Du wirst es mir bestimmt gleich sagen«, knirsche ich.
»Mach ich.«
Diese Borgia, ein renitentes Pack, allesamt! Galcerán und Roderic, Seiner Eminenz Neffe, sind aus demselben Holz geschnitzt: katalanische Korkeiche. Außen weich wie Kork, innen hart wie Kernholz.
»Leg los. Du hast meine volle Aufmerksamkeit.«
»Weil wir beide eigensinnig sind. Mag sein, dass du uns Katalanen für widerspenstig hältst. Aber den Stolz und die Herrschsucht habt ihr Römer erfunden.«
»Autsch.«
»Gleich noch eine?«, droht er mir zum Spaß, mir noch eine zu verpassen.
Ich winke müde ab. »Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten, wenn ich weiß, dass du gewinnen wirst.«
»Kann ich mir jetzt deine Schulter ansehen?«
»Vielleicht später.«
»Wann?«, beharrt er.
Ich stöhne auf und beuge meinen Oberkörper nach vorn. Er legt mir die Hand in den Nacken und streichelt mich mit seinem Daumen.
»Besser?«, fragt er besorgt.
»Nein.«
»Ich sehe mich mal um, ob ich einen Brunnen finden kann. Wir haben seit Stunden nichts getrunken.«
»In Ordnung.« Ich gebe ihm die Wasserflasche, die an meinem Gürtel hängt.
»Ruh dich aus. Ich bin gleich zurück.«
Ermattet lehne ich mich gegen die warme Mauer des Patriarchats. Seit zweiunddreißig Stunden bin ich jetzt auf den Beinen, ohne zu schlafen, ohne zu essen, ohne zu trinken und ohne mir einzugestehen, dass ich am Ende meiner Kräfte bin.
Seit vier Stunden sind Galcerán und ich auf der Flucht vor den Türken, die selbst die ersten Anzeichen der Erschöpfung zeigen. Die Massaker auf offener Straße sind beendet. Die Plünderer, die sich in Palästen, Kirchen und Klöstern ausgetobt haben, machen jetzt Gefangene: Sie erschlagen die Alten und verschleppen die Jungen als Sklaven. Junge Frauen werden an ihren Haaren aus den Häusern gezerrt und auf offener Straße vergewaltigt, weinende Kinder werden ihren Eltern entrissen, die vor ihren Augen hingeschlachtet werden, schreiende Säuglinge werden aus den Fenstern geschleudert. Unter den Türken kommt es immer wieder zu Prügeleien um die schönsten Mädchen – manche von ihnen enden tödlich. Nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter. Trotz meiner türkischen Yeniçeri-Rüstung bin ich als Frau erkannt worden. Das erste Mal konnte ich mich mit einer Sturzflut arabischer Flüche als Tscherkessin, als Kriegssklavin von Sultan Uthman, herausreden. Das zweite Mal musste Galcerán mich vor der Vergewaltigung durch sechs Türken retten.
Das war auf der Akropolis. Nachdem wir Kardinal Isidor gefunden hatten. Der päpstliche Legat Isidor von Kiew hatte seinen prächtigen Kardinalsornat gegen die schlichte Kleidung eines sterbenden Byzantiners eingetauscht und war von seinem Kommandoposten geflohen. Als wir seinen ›Leichnam‹ schließlich fanden, hatten die Türken ihm den Kopf abgeschnitten. Ich bete von ganzem Herzen, dass Isidor es wohlbehalten bis nach Rom schafft, und ich hoffe, dass er dem Papst eine Lektion erteilt.
Irgendwann – ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist – kommt Galcerán zurück.
»Schläfst du?«, fragt er, als er sich schließlich neben mich auf den Boden hockt.
Ich richte mich auf. »Bin wohl eingeschlafen«, nuschele ich
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