Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Prächtige Brokatgewänder werden zerfetzt, Schreine, Kreuze, Kerzenleuchter und Ikonen werden zertrümmert. Nur der Kaiserthron vor der Ikonostasis wird verschont.
»Allahu ekber, Allahu ekber …« Das anrückende Regiment muss jetzt das Atrium der Hagia Sophia erreicht haben.
Wo steckt Mehmed?
Galcerán taucht neben mir auf. »Das Portal ist verriegelt.«
Ich deute auf die Loge der Kaiserin. »Dann komm!«
Er folgt mir in die tonnengewölbte Halle, deren große Bogenfenster auf das Atrium hinabblicken. Ich gehe die niedrige Stufe hinauf, lehne mich gegen die Marmorbrüstung des Fensters und spähe durch die welligen und mit Luftblasen durchsetzten Scheiben, die das Licht um den Thron der Kaiserin zum Glitzern bringen, hinunter in den Hof.
Dem Lärm ist unvermittelt die Stille gefolgt. Ja, jetzt herrscht ein tiefes Schweigen. Kein Schweigen aus Respekt oder Verehrung, sondern aus Sprachlosigkeit, die aus Angst und Schrecken geboren wird.
Ich presse meine Stirn gegen die kühle Scheibe.
Da ist er!
Inmitten seines Gefolges, das sich tief vor ihm verneigt, steigt Mehmed im Atrium von seinem Pferd. Die hohen Würdenträger seines Reiches huldigen ihm, als wäre er der Kaiser von Byzanz.
Rasch formiert sich der Zug der Pa ş as und Wesire und setzt sich hinter Mehmed in Richtung Hauptportal in Bewegung. Einige Gesichter erkenne ich wieder. Halil Pa ş a, der oberste Wesir des Sultans, und Zaganos Pa ş a.
»Was tut er denn jetzt?«, fragt Galcerán und presst die Nase gegen die Scheibe.
Vor der Hagia Sophia kniet der junge Sultan nieder, nimmt eine Handvoll Staub und streut sie sich zum Zeichen seiner Demut über den Turban. Dann erhebt er sich wieder, wischt sich die staubigen Hände an seinem golddurchwirkten Gewand ab, auf dem der Name Gottes mit Purpurfäden gestickt ist, und geht zum Hauptportal, das sich direkt unter uns befindet.
Hat er das Zeremonienbuch der byzantinischen Kaiser gelesen?, frage ich mich grimmig. Bei Prozessionen macht der Basileus immer wieder Halt, wechselt die Kleider aus Purpur, Gold und Juwelen, entzündet Kerzen und betet in Kirchen. Hinter ihm drängt sich die winkende Menge, die sich kein Wort, keine Geste, kein Lächeln entgehen lassen will, das den Menschen hinter der goldglänzenden Ikone des Basileus verrät.
Auch dem glorreichen Sieger Fatih Mehmed folgt die Menge auf seinem Triumphzug durch die eroberte Stadt. Doch sie schwenkt keine Fähnchen und Blumenkränze, sondern Lanzen und bluttriefende Schwerter, und ihr Gesang verbreitet Angst und Schrecken. Keine niedlichen Rotznasen flitzen herbei und werfen ihm fröhlich singend Blumensträuße zu, wie Konstantin.
»Mehmed betritt die Hagia Sophia«, nuschelt Galcerán, der seine Nase noch immer an der Scheibe plattdrückt, um einen Blick auf den Eroberer zu erhaschen.
»Se la montagna non va da Maometto, Maometto va alla montagna. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg gehen. Oder der Sultan zur Hagia Sophia.«
Mein irrsinniger Plan geht auf!
Galcerán hebt die Augenbrauen. Mein triumphierendes Lächeln irritiert ihn. Er weiß von nichts.
Wortlos nehme ich die Armbrust von der Schulter, lade sie und spanne den Bogen.
Galcerán stemmt die Arme in die Seiten. »Was hast du vor?«
»Wonach sieht es denn aus?«
Kapitel 84
In der Hagia Sophia
29. Mai 1453
Gegen zwei Uhr nachmittags
»Das ist nicht dein Ernst!« Er schüttelt den Kopf.
»Du weißt gar nicht, wie ernst es mir damit ist! Ich werde diesen Bastardo del Diavolo töten. Und jetzt geh mir aus dem Weg!« Mit der Tasche über der Schulter und der Armbrust im Anschlag dränge ich mich an ihm vorbei.
»Warte!«, ruft er hinter mir her, dann folgt er mir zur Brüstung vor dem Thron der Kaiserin und sieht neben mir hinunter ins Kirchenschiff.
Da ist er!
»Komm mit!« Schon hetze ich über die Galerie zur anderen Seite der Basilika.
Nach wenigen Schritten erhebt sich vor uns eine weiße Marmorschranke mit zwei als Relief ausgeführten Scheintüren, die den Durchgang in der Mitte flankieren. Das linke Marmorportal führt der Legende nach in die Hölle, das rechte in den Himmel.
Galcerán folgt mir durch den Durchgang in die Nische mit dem berühmten Mosaik von Jesus Christus als Weltenherrscher. Ich halte es für das schönste Bild der Hagia Sophia, wenngleich zwei Drittel des Mosaiks zerstört und mit hässlichem, grauem Gipsmörtel aufgefüllt sind.
Seine Züge am Tag des Jüngsten Gerichts sind so … lebendig. Wie auf dem
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