Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Und die anderen? Francesco Foscari, der Doge von Venedig? Pietro di Campofregoso, der Doge von Genua? Alfonso von Aragón? Juan von Kastilien? Charles von Frankreich? Henry von England? Der deutsche Kaiser Friedrich? Ich balle die Fäuste. Nicht einmal Konstantins Bruder, mein ›geliebter Schwager‹ Demetrios Palaiologos, Despot von Morea und der größte Träumer von allen, rührt einen Finger, um uns zu retten. O nein, Demetrios, dieser Möchtegern-Kaiser, hat sich sogar mit Mehmed verbündet, damit er nicht gestürzt wird wie sein Bruder Konstantin. Dieser Mistkerl!
Galcerán kniet neben mir nieder, bekreuzigt sich andächtig, dann nickt er mir zu. Wir stehen wieder auf, und ich folge ihm durch die betende Menge und einen schmalen Durchgang durch einen Strebepfeiler bis zur Kaisertür. Mit dem Rücken drängen wir uns dagegen, damit wir von den Hereindrängenden nicht umgerannt und totgetrampelt werden.
Als ich über die Köpfe hinweg zum verwaisten Kaiserthron vor der Ikonostasis blicke, muss ich an meine Hochzeit gestern Abend mit Cesare denken, und die Trauer treibt mir heiße Tränen in die Augen.
»Machst du deinen Frieden mit Gott?« Galcerán blickt mich von der Seite an.
Ich schüttele den Kopf.
»Weinst du?«
Ich beiße mir auf die Lippen und antworte nicht.
»Du solltest dich hinlegen, Alessandra. Du bist bleich wie der Tod. Komm, ich bringe dich …«
In diesem Augenblick ertönt ein Schrei.
»Gott steh uns bei! Die Türken stürmen die allerheiligste Hagia Sophia!«
Kapitel 83
In der Hagia Sophia
29. Mai 1453
Kurz vor zwei Uhr nachmittags
»Schließt die Tore!«, brüllt Galcerán neben mir.
Zu spät! Ein wilder Schreck fährt mir in die Knochen, als ich begreife, dass das Schlimmste eingetreten ist: Wir sitzen in der Falle.
Die ersten Türken stürmen durch die Portale in die Basilika. Griechen, Italiener und Katalanen weichen schreiend und mit erhobenen Händen vor ihnen zurück zum Altar, wo der Priester unbeirrt weiter die Messe liest, bis er unter den Hieben eines Schwertes zusammenbricht.
»Wir müssen sofort verschwinden!« Galcerán packt mich grob am Arm. »Wie kommen wir hier heraus?«
»Durch die Kaisertür.« Taumelnd richte ich mich auf und deute auf die wuchtige Tür hinter uns. »Sie ist nicht verschlossen.«
»Wir müssen durch die heranstürmenden Türken?«
»Ja.«
»Wohin?«
Ich zeige nach oben, während ich mir seinen schwarzen Habit vom Leib reiße, ihn in meine Tasche stopfe und wieder zum türkischen Yeniçeri werde. »Auf die Galerie!«
Galcerán zerrt das gewaltige Portal einen Spaltbreit auf, schiebt mich hindurch und lässt die Kaisertür hinter uns ins Schloss fallen. Während wir durch den Narthex hetzen, kann ich hören, wie das Tor, das aus Holz und Bronze besteht, von innen verriegelt wird. Die Gläubigen verbarrikadieren sich in der Kirche, in der letzten christlichen Bastion in der eroberten Stadt.
Ich packe Galcerán am Ärmel und ziehe ihn durch die heranstürmenden Türken hinter mir her zur Treppe rechts von uns und weiter zur schmalen Rampe, die zur Kaiserinnenloge hinaufführt.
Während wir zur Empore hinaufhetzen, höre ich die Äxte der Türken, die gegen die Tore der Basilika krachen, die türkischen Befehle und die entsetzten Schreie der Christen.
Und noch etwas anderes dringt an mein Ohr: Pauken und Trompeten und türkischer Gesang.
»Allahu ekber, Allahu ekber …«
Ist Sultan Mehmed in der Nähe?
»Schließ das Portal hinter uns!«, befehle ich Galcerán, als wir auf die Empore hinausstürmen, wo sich der Thron der Kaiserin befindet.
Die breite Empore aus weißem Marmor unter einem goldglitzernden Gewölbe führt an drei Wänden der Basilika entlang: im Norden, im Süden und im Westen.
Ich blicke über die Marmorbrüstung und das halbrunde Schmuckgitter nach unten in die Basilika: Die Tore werden aufgebrochen. Die Gläubigen schreien, als die Türken hereinstürmen und Blut über den Marmorboden spritzt.
Während die einen johlend die Kirchenschätze plündern, Priestergewänder anzünden, Bücher zerfetzen, Reliquiare zerschlagen, die Ikonostasis umwerfen und zerhacken und den Altar schänden, treiben die anderen die Griechen, Katalanen und Italiener zusammen, fesseln sie und schleppen sie unter Schlägen und Fußtritten als Sklaven aus der Kirche.
Die verzweifelten Gebete weichen nach und nach dem Lärm der Plünderung. Geweihte Gefäße aus Gold und Silber, mit Perlen und Juwelen besetzt, poltern über den Marmorboden.
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