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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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schieß doch endlich!«, drängt Galcerán.
    »Noch nicht.«
    »Aber jetzt …«
    »Sei still! Verdammt noch mal!«, fauche ich ihn an. Endlich gibt er Ruhe.
    Durch das Visier beobachte ich Mehmed. Er ist nicht groß, ja sogar kleiner als ich, aber sehr kräftig. Durchdringende Augen unter gewölbten Brauen und eine prägnante Nase verleihen seinem Gesicht etwas von einem Raubvogel. Er gibt sich würdevoll, gebieterisch, doch seine Gesten und sein Gehabe wirken unsicher. Hat er seinen triumphalen Sieg über Konstantinopolis, das Erreichen seines Lebensziels im Alter von nur einundzwanzig Jahren, mit einigen Bechern Wein gefeiert? Ja, ich glaube, er ist tatsächlich nicht nur ein wenig beduselt.
    Mehmed der Säufer, sieh mal einer an.
    Ich spitze die Lippen und ziele nicht mehr auf sein Herz, sondern auf seinen Kopf. Es muss sehr schnell gehen, denn ich habe nur einen Schuss. Bevor ich die Armbrust nachladen und spannen kann, geht er unter der Galerie in Deckung und hetzt seine Yeniçeriler auf mich. Meine linke Schulter, wo mir ein Steinsplitter unter die Rüstung gedrungen ist, schmerzt unerträglich, doch meine Hände zittern nicht. Jetzt nicht mehr.
    Während ich konzentriert hinunterstarre, schiebt sich plötzlich Konstantins Gesicht vor das von Mehmed. Mein Finger krümmt sich um den Abzug.
    Noch nicht, Sandra, noch nicht!
    Meine Schulter- und Armmuskeln entspannen sich, die Waffe bewegt sich keinen Fingerbreit.
    Noch nicht, Sandra! Warte ab, bis er sich aufrichtet und ein besseres Ziel bietet.
    Mehmed richtet sich auf und blickt hinauf zur Kuppel über uns. Einen furchtbaren Augenblick lang habe ich das Gefühl, dass er mich, seinen Todesengel, sieht. Dass er mich erkennt. Dass er gleich einen warnenden Schrei ausstößt und mir seine Yeniçeriler auf den Hals hetzt.
    Doch nichts geschieht. Er beugt sich wieder vor, die Stirn auf den Marmorfliesen vor dem Kaiserthron, und beginnt die nächste Raka’a, den nächsten Gebetsabschnitt: stehen, niederknien, sich verneigen.
    Schließlich richtet er sich wieder auf, wendet den Kopf zuerst nach rechts, spricht »Friede sei mit dir!«, dann nach links und wiederholt den Gruß.
    »Amen«, hallt es durch die Kathedrale, die nun eine Moschee ist.
    Mehmed richtet sich schwankend auf und fährt sich mit den Händen über das Gesicht.
    Ja, ich glaube, er ist tatsächlich betrunken.
    Es ist so weit.
    Das Visier meiner Armbrust umschließt sein Gesicht. Mein Finger krümmt sich und findet den Druckpunkt.
    Ich halte den Atem an.
    Mehmed dreht sich zur Seite und spricht mit seinem Wesir Halil Pa ş a.
    Ein Leben gegen das von Tausenden.
    Gott, hilf mir! Schenk mir die Kraft und den Willen!
    Dann ziehe ich durch, und der Bolzen zischt über die Balustrade hinweg auf Mehmed zu.
    Doch genau in diesem Augenblick beugt er sich vor.
    Der Schuss geht fehl. Der Bolzen dringt in den Marmorboden hinter ihm.
    »Déu meu!« Galcerán bekreuzigt sich.
    Zuerst herrscht Stille, doch dann bricht ein Aufschrei des Entsetzens los. Die Offiziere, die Mehmed umgeben, sehen sich entsetzt in der Basilika um. Dann werde ich entdeckt.
    Wieder spanne ich die Armbrust, ziele, schieße …
    … und treffe.

Kapitel 86
    In der Hagia Sophia
29. Mai 1453
Viertel nach zwei Uhr nachmittags
    »Ets magnífica«, nuschelt Galcerán neben mir und haut mit der Faust gegen den Marmor.
    Mehmed schreit auf, mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Er fasst sich an den linken Oberarm und blickt zu mir hoch. »Contessa Alessandra?«, ruft er zu mir herauf. »Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen.«
    »Die Freude ist allein auf deiner Seite«, brülle ich zurück und gebe Galcerán, der sich hinter der Balustrade verborgen hält, die Armbrust. »Nachladen!«, flüstere ich.
    Mehmeds Lachen hallt durch die Basilika. »Du Biest.«
    »Wen zitierst du, Sultan Mehmed?«, rufe ich hinunter, um Zeit zu gewinnen. »Sultan Uthman oder Sultan Muhammad?«
    Seine Antwort übertönt das Knarren beim Spannen der Armbrust:
    »Keiner von beiden würde dich als Biest bezeichnen, Alessandra Pa ş a.« Er verzieht belustigt die Lippen wegen des männlichen Titels, den er mir verliehen hat. »Muhammad al-Aysar schätzte dich, die Gemahlin seines Wesirs, als Vertraute. Und Uthman al-Mansur hatte feuchte Träume, bis du ihn endlich in dein Bett gelassen hast.« Er grinst anzüglich. »Komm herunter, Alessandra Pa ş a, ich will dich kennenlernen. Ich will wissen, wer die Frau ist, die mir die Köpfe meiner Yeniçeriler mit einer

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