Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
mindestens sechs Angreifer. Und das Laden und Spannen der Armbrust dauert viel zu lange.
Galcerán und ich sitzen in der Falle.
Da, ein Schatten!
Der Türke in der Nische huscht vor dem Fenster vorbei. Dabei gleitet sein Schatten über den glänzenden Marmorboden.
Ich lege an und warte ab.
»Und jetzt?«, fragt Galcerán.
»Zieh dich bis zum Bogenfenster zurück, aber bleib in Deckung. Die Tür zum Dach liegt genau in ihrer Schusslinie.«
»Und du?«
»Ich komme gleich nach.«
»Was hast du vor?«
»Tu, was ich dir sage. Los jetzt.«
»Soll ich die Tasche nehmen?«
Ich nicke. »Und jetzt verschwinde endlich! Sie kommen!«
Galcerán springt auf, schultert die schwere Tasche mit unserer Ausrüstung und hetzt zum Bogenfenster. Dort wartet er auf mich.
Zwei Bolzen zischen an mir vorbei und prallen gegen das Fenster hinter mir. Noch eine Scheibe zerbirst, die Scherben fallen klirrend auf den Boden.
Da ist einer!
Ich ziehe den Abzug durch, und ein Bolzen streckt den Yeniçeri nieder.
Und der andere?
Ich lege wieder an und warte.
Der Schatten kriecht über den Boden. Er kommt näher, die gespannte Armbrust im Anschlag.
Irgendwann muss er um den Gewölbepfeiler herumkommen.
Ganz ruhig, Sandra. Gleich ist es so weit.
Jetzt!
Ich drücke ab. Der Yeniçeri keucht vor Schmerz und lässt die Waffe fallen.
Nichts wie weg!
Galcerán steht schon vor der Tür und versucht sie zu öffnen. Sie ist verschlossen.
Ich stoße ihn zur Seite. Dann weiche ich drei Schritte zurück, nehme Anlauf und trete gegen das Portal. »So machen wir das in Rom!«
Kapitel 89
Auf dem Dach der Hagia Sophia
29. Mai 1453
Gegen halb drei Uhr nachmittags
Zwei Bolzen verfehlen uns nur um Haaresbreite.
»Andiamo!« Ich packe Galcerán an der Schulter und zerre ihn durch die Tür auf das Dach der Hagia Sophia. Dann springen wir nebeneinander auf das gewölbte Bleidach und ziehen den Kopf ein.
Ich blicke mich um.
Und jetzt?
Noch drei Schüsse werden auf uns abgefeuert, ein Bolzen schlägt direkt neben meiner Schulter in das Metalldach.
Wir blicken über die Bleiplatten hinweg nach unten zur Straße und beobachten den Strom der ankommenden Türken, die aus allen Gassen quellen. Wie eine Flutwelle, die sich zur Hagia Sophia ergießt.
»Das sind mehr als tausend! Wie kommen wir da runter?«, fragt Galcerán. Er kriecht zwei Schritte nach vorn und schaut nach unten.
»Gar nicht.« Ich wende mich um und sehe nach oben. Über mir ragt das Gewirr der Dächer und Halbkuppeln der Apsis auf. Darüber schwebt die große Kuppel. Der Anblick der gestuften Dächer erinnert mich ein wenig an meinen Aufstieg auf die Pyramide des Cheops in Gize. »Himmelwärts strebend …«
Wieder knallt ein Bolzen zwischen meinen Beinen ins Bleidach.
»Sie kommen«, warnt mich Galcerán unnötigerweise.
»Und wir verschwinden.« Ich springe auf. »Y’allah.«
»Wohin?«
»Da lang!« Ich deute auf das Schrägdach fünf Ellen über uns.
»Über das Dach?«
»Hab ich dir schon erzählt, wie ich in Florenz von Brunelleschis Domkuppel gesprungen bin?«
»Nein.«
»Ich erzähle es dir, während du mich über das Marmarameer ruderst. Der Hafen des Bukoleon-Palastes ist eine halbe Meile entfernt.«
Galcerán springt auf, schultert die Tasche und kommt zu mir herüber. »Du willst ein Boot stehlen.«
Er beugt sich vor und verschränkt seine Hände, sodass ich meinen Fuß hineinsetzen kann. Dann hebt er mich hoch.
» Kapern heißt das. Ich will ein Boot kapern«, doziere ich, während ich aufs Dach klettere, mich umdrehe und ihm die Tasche abnehme.
Ächzend folgt er mir. »Und dann?«
»Kommt aufs Boot an.«
Galcerán nimmt mir die Tasche ab. »Soll heißen?«
»Ruderboot – wir rudern auf die asiatische Seite«, erkläre ich, während ich zur Wölbung der Kuppel über der Galerie hinüberlaufe. Die Yeniçeriler sind jetzt direkt unter uns – vermutlich können sie unsere Schritte auf dem Bleidach hören. »Segelboot – wir segeln den geflohenen Schiffen nach. Mit einem schnellen Boot können wir sie bei acht bis zehn Knoten Fahrt in wenigen Stunden einholen. Der Wind steht günstig.«
»Warum kapern wir nicht gleich eine türkische Galeere?«, frotzelt Galcerán.
»Wenn du die Mannschaft anheuerst.«
Er verdreht die Augen. »Ich kann rudern. Kannst du segeln?«
Mit meinen türkischen Stiefeln schlittere ich auf ein abschüssiges Dach zu, das sich genau über einem der großen Bogenfenster der Galerie wölbt. Wenn ich nicht achtgebe, rutsche ich
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