Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
die Schulter. Wie blass er ist! Er scheint schwerer verletzt zu sein, als zunächst angenommen. »Komm jetzt.«
Halb schleppe, halb ziehe ich ihn über die unebenen Bodenplatten des Hofes vor der Orea Porta. Rechts von uns ragt die unscheinbare Fassade der Hagia Sophia in den blauen Himmel.
»Da vorn ist ein Brunnen.«
Erschöpft lehnen wir uns gegen die marmorne Einfassung und tauchen unsere leeren Wasserflaschen in das Wasser. Während wir in großen Schlucken trinken, beobachte ich das Tor des Patriarchats. Galcerán taumelt. Er muss sich am Brunnen festhalten. Seine Rüstung ist blutverschmiert.
Wir füllen unsere Flaschen, hängen sie an unsere Gürtel und brechen wieder auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
An einem Beet mit blühenden Rosen vorbei hasten wir zur Mauer des Atriums. Von dort ist es nicht mehr weit bis zu der Brücke, die über die Prachtstraße zum Bukoleon-Palast hinüberführt. Und von dort bis zum Hafen ist es nur noch …
»Alessandra Pa ş a?«
Ich zucke zusammen.
Nein, nur das nicht!
»Alessandra Pa ş a!«
Langsam drehe ich mich um.
Sultan Mehmed. Hoch zu Ross, umringt von seiner Leibgarde.
Hinter ihm stürmt gerade eine Handvoll Yeniçeriler mit Arkebusen durch das Portal des Patriarchats. Sie bleiben stehen und legen auf uns an.
Kapitel 91
Vor dem Atrium der Hagia Sophia
29. Mai 1453
Viertel vor drei Uhr nachmittags
Lässig deutet Mehmed auf den Bukoleon-Palast hinter mir. »Ich wollte nach dem Gebet zu meinem Palast hinüberreiten, um mich zu erfrischen und ein wenig auszuruhen. Willst du mich nicht begleiten? Als mein Gast, selbstverständlich, nicht als meine Gefangene. Ich achte deinen Status als Gesandte des Papstes.«
Ich lasse Galcerán los und trete einen Schritt vor. »Du bist sehr großzügig.«
Ungeduldig gebietet Mehmed den Yeniçeriler, die Arkebusen zu senken. »Du nimmst meine Einladung also an?«
Ich werfe einen kurzen Blick zu Galcerán. Der starrt mich mit vor Schreck aufgerissenen Augen an. Mehmeds Hengst beginnt unruhig zu tänzeln.
»Nein, es tut mir leid, Mehmed. Aber ich habe heute Abend schon etwas anderes vor. Ich wollte ein wenig auf dem Marmarameer segeln.«
In diesem Augenblick wirbele ich herum und stürme an Galcerán vorbei.
»Lauf um dein Leben!«
Intermezzo 5
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach acht Uhr abends
Benommen, ja berauscht drehe ich mich auf die Seite und presse mein Gesicht in das nach Blut riechende Kissen.
Jibrils Blut, denke ich, während ich gegen die Erschöpfung ankämpfe.
Blinzelnd öffne ich schließlich die Augen. Das Kaminfeuer ist heruntergebrannt, die Asche glüht nur noch. Im Raum ist es finster wie in Dantes Inferno.
Ich richte mich auf und sehe mich in der Zelle des Abtes um.
Wo ist Prospero?
Erschöpft lasse ich mich zurücksinken und schließe wieder die Augen.
Kapitel 92
Auf dem Weg zur Cisterna Basilica
29. Mai 1453
Viertel vor drei Uhr nachmittags
»Wo willst du hin?«, fragt Galcerán, während er schweißüberströmt hinter mir her hechelt.
Befehle werden gebrüllt, Hufe trappeln. Dann fällt ein Schuss aus einer Arkebuse.
»Zur Cisterna Basilica«, keuche ich und deute nach vorn. »Dort werden wir uns verstecken und die Nacht verbringen.«
Ich versuche meine Gedanken zu sammeln, um einen Plan zu machen. Aber ich schaffe es nicht – ich muss immer nur an die Flucht denken. Wie weit ist es noch bis zum ›versunkenen Palast‹? Sind wir dort in Sicherheit? Ich habe Mehmed gegenüber angedeutet, dass ich ein Boot kapern will, um zu entkommen. Er wird die Häfen zum Marmarameer überwachen lassen. Dort brauche ich mich mit Galcerán also nicht blicken zu lassen.
Die Türken folgen uns auf ihren Pferden und holen schnell auf. Links von uns liegen die Gärten des Patriarchats. Die blühenden Blumenbeete sind mit zerfetzten Büchern und zerbrochenen Ikonen übersät, dazwischen liegt ein Priester in schwarzem Ornat mit langem weißen Bart. Er sieht aus wie ein gefallener Engel. Vor uns erstreckt sich eine Prachtstraße mit alten Kastanien, das Pflaster ist überströmt von Blut. Ein türkisches Regiment marschiert mit klingendem Spiel und flatternden Fahnen auf uns zu.
Schlitternd wende ich mich nach links und hetze, gefolgt von Galcerán, die Straße zwischen der Hagia Sophia und der Hagia Irene entlang. Die Gläubigen haben sich in der Kirche verbarrikadiert, doch die Türken haben die Bronzetore aufgebrochen und schleppen ihre Gefangenen aus der Kirche. Viele der jungen
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