Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Mädchen und hübschen Jungen werden dabei fast zu Tode gezerrt, weil ein hitziger Streit um sie entbrennt. Trotz des Tumults kann ich hören, dass der Priester die Messe unbeirrt fortsetzt. Doch plötzlich erstirbt sein verzweifeltes Kyrie eleison in einem schrillen Schrei.
Wir lassen die Hagia Irene hinter uns und keuchen weiter. Mein Atem geht schwer, die Wunde macht mir zu schaffen. Wie mag es Galcerán gehen?
Wir rennen an der Westseite der Hagia Sophia entlang, zurück zum Atrium. Damit rechnet Mehmed gewiss nicht.
Hundertfünfzig Schritte noch bis zur Cisterna Basilica, höchstens.
Galcerán bleibt zurück, seine Fußtritte werden leiser. Also werde ich langsamer, bis er zu mir aufschließt, fasse ihn am Arm und ziehe ihn so grob hinter mir her, dass er um ein Haar gestolpert und gestürzt wäre.
Die Reiter sind nur noch wenige Schritte hinter uns.
Ich laufe so schnell ich kann. Ich schreie. Vor Todesangst?
Mit einem Ruck ziehe ich Galcerán von der Straße weg zu einer Mauer. Dann springen wir durch eine Lorbeerhecke hindurch in den Garten der Ruine einer antiken Basilika und hetzen zum Eingang der Zisterne hinüber.
Das Hufgetrappel hinter uns wird lauter, das Geschrei auch. Unsere Verfolger haben bemerkt, dass wir uns ins Gebüsch geschlagen haben.
Gebrüllte Befehle. Einige der Verfolger galoppieren weiter und suchen ein Portal, um in den Garten einzudringen, andere springen von den Pferden und klettern uns nach.
Da vorn ist der Einsturz!
Ich beuge mich über das tiefe Loch, das zum schwarz glitzernden Wasser hinabführt. Ein kühler Lufthauch weht mir entgegen.
Die antike Cisterna Basilica liegt, wie der Name sagt, unter einer antiken Basilika. Das unterirdische Reservoir, ein Auffangbecken für Regenwasser, das Kaiser Justinian errichten ließ, versorgt den Kaiserpalast über ein System von Leitungen mit Wasser. Zwölf Reihen von Säulen mit korinthischen Kapitellen, insgesamt über dreihundert, tragen das hohe Ziegelgewölbe, an dem silbern die Wellen reflektieren, wie das Wasser der Canali und Rii unter den Brücken von Venedig. Die hellen Querstreifen an den zwanzig Ellen hohen Säulen markieren den einstigen Wasserpegel der Zisterne. Jetzt, im Mai, ist sie fast leer.
Bei einem Erdbeben stürzte ein Teil der Basilika ein und zerschlug das Gewölbe der Zisterne. Die Trümmer fielen ins Wasserbecken und bilden jetzt eine Rampe aus Steinen und Erde, die bis zur Wasseroberfläche des ›versunkenen Palastes‹ hinabführt. Galcerán hat hier vorhin unsere Wasserflaschen aufgefüllt.
Mit eingezogenem Kopf rutschen wir die steile Rampe aus Steinsplittern hinunter und bleiben vor dem kristallklaren Wasser stehen.
Einige Schritte weiter liegt ein mit Algen bewachsenes kleines Ruderboot vertäut. Es sieht aus wie das Ruderboot des greisen Charon, der die Verstorbenen für einen Obolus über den Totenfluss Styx setzte, damit sie ins Reich der Toten gelangen konnten, in den Hades. O ja, Dante Alighieri hätte an diesem finsteren Ort seine helle Freude gehabt, denn selbst mit mir geht die Fantasie durch. Nun, vermutlich werden mit dem Boot die Karpfen gefangen, die mit einem glucksenden Laut immer wieder an die glitzernde Oberfläche kommen. Hinter dem Boot verschwinden die Säulen in der Finsternis.
Ich wate durch das Wasser, werfe die Tasche ins Boot und stoße es an, damit es von der Rampe wegtreibt.
Sehr gut! In dem Dämmerlicht in der Zisterne ist die Tasche nicht mehr zu sehen.
Ich schwimme los. Galcerán folgt mir mit hektisch paddelnden Bewegungen. Beide verstecken wir uns hinter der ersten Säule.
Ich wage einen Blick um die Säule herum.
Niemand zu sehen.
Oben wiehert ein Pferd. Sättel knarren, Rüstungen klirren, Schwertscheiden zischen.
Ich lausche auf Schritte, die die Trümmerhalde herunterkommen, auf losgetretene Steine, die den steilen Hang herabrollen, auf ein Keuchen. Aber alles bleibt still. Bis auf das ständige, weit entfernte Rauschen der Wasserzuläufe am anderen Ende, das die gewaltige Zisterne mit einem fast überirdischen Sphärenklang erfüllt. Das schräg einfallende Tageslicht, das zur imposanten Architektur zu gehören scheint, vermittelt den Eindruck, in einem Palast im Himmel zu sein. Durch das Spiegelbild der Decke auf der glatten Wasseroberfläche wirkt die gewaltige Zisterne doppelt so hoch.
Das Wasser ist so kühl, dass ich zu zittern beginne. Ich drehe mich zu Galcerán um. Er beißt die Zähne zusammen und hält sich mit verkrampften Schultern an der
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