Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
lasse ich mich ins Wasser gleiten, tauche bis zum Kinn unter, ziehe die Beine an und lehne meinen Kopf gegen die Wand des Bottichs, den ich vorhin im Vorratskeller entdeckt und in die Küche gezogen habe.
Sobald ich mich an die Schmerzen gewöhnt habe, die das dampfend heiße Wasser in meinem erfrorenen Körper hervorruft, tauche ich auch den Kopf unter. Als ich prustend wieder hochkomme, fühle ich mich besser. Auch ohne Seife.
Ich muss das Blut abwaschen, meines, das von Galcerán, von Jibril, von Vittorio, auch den Pulverdampf von der Schlacht, den Schweiß von der Flucht, das Grauen, die Raserei, die Todesangst. Und die schrecklichen Erinnerungen. Es ist, als versuchte ich, unter dieser dicken Schicht aus Blut und Schweiß und Dreck den Menschen zu befreien, der ich einst war. Und den Menschen zu befreien, der in diesem Kerker des Geistes gefangen ist, den Jibril um mich herum errichtet hat.
Ich lehne den Kopf zurück, schließe die Augen und lausche dem leisen Gluckern des Wassers, das bei jeder Bewegung gegen den Rand des Bottichs schwappt.
Das sanfte Plätschern ruft Erinnerungen an sprudelndes Wasser hervor, das im Sonnenlicht gleißt und glitzert. An Elija, der in den Gärten der Alhambra ausgelassen herumtollt und einen Drachen steigen lässt. An Yared mit seinem Sekretär und Freund Benyamin im Myrtenhof. Und an Jibril, bekleidet mit einer Djellabiya aus granatapfelrotem Brokat und einem weißen Turban. Seine honigfarbenen Locken kringeln sich darunter hervor. Wir besteigen gemeinsam den Alcazaba, einen der höchsten Berge in der Sierra Nevada östlich von Granada.
Wenn ich mich an die Frau einst in Granada erinnere, dann kommt es mir vor, als sei nicht ich das gewesen, die Jibril liebte und begehrte, sondern eine andere, die ich einmal sehr gut kannte und die mir in den letzten Monaten fremd geworden ist. So wie Jibril. Wer war die Frau in Granada? War das ich? Und die Frau in Byzanz? War das auch ich?
Wie soll ich es mit all diesen schrecklichen Erinnerungen schaffen, wieder die zu werden, die ich einmal gewesen bin, vor vielen Jahren in Rom und Florenz? Wie soll es mir gelingen, dorthin zurückzukehren, woher ich einst kam, und noch einmal ganz von vorn anzufangen? Ohne Niketas, ohne Yared, ohne Cesare. Ohne die Menschen, die ich geliebt habe. Ohne Angelo und ohne Elija.
Es gibt ein arabisches Sprichwort: Das Leben besteht aus zwei Teilen – die Vergangenheit ist nichts als ein Traum, die Zukunft nur ein Wunsch.
Die Zukunft ist tot, untergegangen in einem blutigen Gemetzel. Und mit ihr und meinen Söhnen starben die Hoffnung und die Sehnsucht. Und die Vergangenheit? Sie ist in tausend Scherben zerbrochen. Viele Erinnerungssplitter fehlen noch – die schönen, die friedlichen, die glücklichen …
Wie soll ich weiterleben? Wie soll ich …
Erschrocken zucke ich zusammen.
Was war das?
Leise setze ich mich auf und lausche.
War das der Wind?
Es dauert eine Weile, bis ich begreife, was ich da höre.
Es sind Glöckchen. Ihr Klingen wird rasch lauter.
Jetzt kann ich auch das Schnauben von Pferden hören.
Jemand nähert sich der Abtei!
Kapitel 103
In der Küche
22. Dezember 1453
Kurz vor Mitternacht
Ist es Prospero?
Mit einem Satz springe ich aus dem Bottich und kleide mich vor dem Kaminfeuer rasch an. Dann hetze ich hinauf in die Zelle des Abtes und spähe aus dem Fenster, das unter meinem Atem beschlägt.
Die Scheibe ist mit Eisblumen und Schnee bedeckt, sodass ich kaum etwas erkennen kann. Nur so viel: Prospero ist es nicht.
Zehn, fünfzehn, nein, noch mehr, vielleicht zwanzig Reiter kommen nacheinander die Wege herauf zur Terrasse vor dem Portal des Châtelets. Helme und Harnische schimmern matt im Schein ihrer Fackeln. Schwerter blitzen auf, als sie gezogen werden, Armbrüste knarren in der kalten Luft, als sie gespannt und geladen werden.
Ich wringe mir die nassen Haare aus und blicke nach unten. Was geht hier vor? Zu wem gehören die Bravi, die kein Wappen auf der schwarzen Kleidung tragen?
»Alessandra!«, schallt es zu mir hoch. »Seid Ihr hier?«
Vorsichtig luge ich durch die Eisblumen.
Ich traue meinen Augen nicht. Ein weißes Brokatgewand unter einer roten Mozzetta mit Hermelinbesatz, die im dichten Schneetreiben kaum zu erkennen ist. Weiße Handschuhe und eine rote Kappe.
»Alessandra! Öffnet das Tor, seid so gut!«
Ich muss schlucken.
Der Reiter dort unten, inmitten der Venezianergarde des Vatikans … das ist der Papst!
Der letzte Tag …
Kapitel 104
In der
Weitere Kostenlose Bücher