Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Zelle des Abtes
23. Dezember 1453, der vierte Advent
Kurz nach Mitternacht
Der Papst!
Ich muss mich an der Wand der Fensternische festhalten, um nicht zu Boden zu sinken, denn ich zittere plötzlich am ganzen Körper. Vor Erleichterung? Oder vor Erschöpfung? Ich kann es nicht sagen. So lange habe ich dieses erlösende Gefühl herbeigesehnt, so lange habe ich auf den Mauern von Byzanz auf Rettung durch den Papst gehofft, dass die gewaltsam aufgestauten Gefühle mit einem Mal aus mir hervorbrechen und ich mit zuckenden Schultern zu weinen beginne. Tränen rinnen mir über das Gesicht, während ich schluchzend an Prosperos Worte denke, bald sei alles vorbei.
Jetzt ist es endlich so weit.
»Alessandra?«
Das Herz klopft mir bis zum Hals. Meine Knie zittern, und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
Prospero lebt. Er ist wohlauf. Er ist nach Aquila geritten, um Hilfe zu holen. Mit einem Ruck richte ich mich auf und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Das kann nicht sein! Nach Aquila? Im Schneesturm durch die verschneiten Abruzzen?
Die Ernüchterung trifft mich wie ein Schlag in den Unterleib, und mir wird übel.
Ich lehne meine Stirn gegen die gefrorene Scheibe.
»Alessandra!«
Prospero ist nicht nach Aquila geritten.
Prospero ist tot.
Ein stechender Schmerz durchzuckt mein Herz, und das Atmen fällt mir schwer. Wie gelähmt von der Traurigkeit, die mich plötzlich niederdrückt, starre ich nach unten, wo im Schneegestöber die schwer bewaffnete Eskorte des Papstes von den Pferden springt.
»Um Gottes willen, Alessandra!«, ruft der Papst ungeduldig. »Öffnet das Tor!«
Ich atme tief durch.
Prospero ist tot, denke ich beklommen. Genauso tot wie meine Hoffnung auf Rettung.
»Dum spiro spero«, habe ich zu Konstantin gesagt. »Solange ich atme, hoffe ich.« Doch Glaube, Hoffnung und Gottvertrauen helfen mir jetzt nicht mehr.
Solange ich atme, kämpfe ich.
Entschlossen gehe ich zum Tisch hinüber und stecke das Notizbuch mit meinem Abschiedsbrief und meinem Testament ein. Dann packe ich Jibrils Dolch mit dem Johanniterkreuz auf dem Heft.
Ja, ich werde kämpfen!
Kapitel 105
Auf der Treppe des Châtelets
23. Dezember 1453
Kurz nach Mitternacht
Mit angespannten Schultern, in der einen Hand die Kerze, in der anderen den Dolch, gehe ich die Treppe hinunter zum Portal des Châtelets. Auf den Stufen hinter mir stelle ich das flackernde Licht ab, entriegele das schwere Tor und ziehe es mit beiden Händen auf. Jibrils Dolch verberge ich hinter dem rechten Torflügel.
Die Ritter sind von den Pferden gestiegen, die bereits in den Stall geführt werden, und warten angespannt darauf, dass sie eingelassen werden. Die eisige Luft ist erfüllt vom Stampfen und Schnauben der Pferde und vom Klirren und Rasseln der Waffen.
Seine Heiligkeit sitzt noch im Sattel und blickt mir erwartungsvoll entgegen, während ich langsam die Stufen hinuntergehe, um ihm vom Pferd zu helfen.
Ich verziehe die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln.
Dann stecke ich den Dolch in den Gürtel, knie nieder und ergreife Zügel und Steigbügel. Seine Heiligkeit wirkt unsicher, und ich merke ihm an, dass ihm dieses Zeremoniell genauso fremd ist wie mir. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals vor einem Papst gekniet habe – nicht vor meinem Cousin Papst Martin, nicht vor meinen engen Freunden Papst Eugenius und Papst Nikolaus.
»Vostra Santità!«, begrüße ich ihn betont formell, nehme seine rechte Hand und küsse den schlichten Goldring ohne Papstwappen, ohne Tiara und ohne gekreuzte Schlüssel. Auf Knien blicke ich zu ihm auf. Schneeflocken liegen auf seinen Augenbrauen.
Wer ist er?
Er hilft mir auf und umarmt mich. »Euer Gnaden.«
»Euer Eminenz.« Ich trete einen Schritt zurück. »Ich bin päpstlicher Legat mit Sondervollmacht, entsandt zu Seiner Majestät dem Kaiser von Byzanz, um die Kirchenunion durchzusetzen, die 1439 in Florenz geschlossen wurde«, betone ich. »Die korrekte Anrede lautet also: Vostra Illustrissima e Reverendissima Eminenza. Aber wie Ihr wisst, hasse ich die Rituale der Macht. Die Anrede Euer Eminenz reicht völlig aus.«
Er ringt um Fassung. Und um eine würdevolle Haltung. Beides fällt ihm offensichtlich schwer.
Der Papstornat ist echt, denke ich, aber der Papst unter Samt, Seide, Goldbrokat und Hermelin ist es nicht.
»Ich bin sehr glücklich, dass Ihr noch lebt, Euer Eminenz!«, sagt er. Wahrscheinlich will er mich versöhnlich stimmen.
»Ich auch«, antworte ich trocken. Ich balle
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