Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Verrat passiert sein könnte … die Ikone an der Wand der Bibliothek … die Farben, das Blattgold, das Ei und der Leim in der Werkstatt … der Kampf mit Galcerán auf dem Glockenturm … der Sturz …
Dann klappe ich das Büchlein zu, stecke den Silberstift in den Buchrücken und gehe hinunter in die Bibliothek.
Kapitel 98
In der Bibliothek
22. Dezember 1453
Viertel vor zehn Uhr abends
Mit der flackernden Kerze in der Hand trete ich vor die Ikone.
Die Nacht des Verrats.
Byzantinisch, hat Prospero vorhin vermutet. Aus Kreta oder Rhodos. Vielleicht aber auch aus Naxos, Mykonos oder Santorin.
All diese Inseln liegen entlang unseres Fluchtwegs, den Galcerán auf der Innenseite des Einbandes ganz hinten in seinem Brevier skizziert hat. Die Linie führt von Konstantinopolis mitten durch türkisch besetztes Gebiet, weiter über Thessaloniki nach Athen, dann nach Mistra, wo Konstantins Bruder Demetrios als Despot herrscht, dann an Naxos, Mykonos und Santorin vorbei nach Ephesos, an der türkischen Küste entlang nach Süden und an Rhodos vorbei nach Kreta.
Chios!, schießt es mir durch den Kopf.
Ja, Galcerán und ich waren auf der Insel Chios, ganz sicher. Ich erinnere mich, dass jemand mir erzählt hat, Giovanni Giustiniani sei dort wenige Tage nach dem Fall von Konstantinopolis seinen schweren Verletzungen erlegen. Ich weiß noch, dass ich dachte, seine überstürzte Flucht zum Hafen habe den dramatischen Zusammenbruch der Verteidigung heraufbeschworen.
Chios also!
Die Teile des Mosaiks fügen sich immer weiter zusammen. Aber es ergibt noch kein vollständiges Bild. Erst muss ich das Rätsel dieser Ikone entschlüsseln.
Ich nehme sie von der Wand, klemme sie mir unter den Arm und gehe damit hinüber in die Werkstatt, um auf dem Arbeitstisch Platz zu schaffen.
Auf der Ikone liegt kein Staub. Sie hat keine Stockflecken, und der Firnis ist noch nicht nachgedunkelt. Keine Risse, keine Kratzer, kein abblätterndes Blattgold. Die Ikone ist also erst vor Kurzem gemalt worden!
Ich halte das Bild schräg ins Licht der Kerze.
Die Ikone, die aus einem zwei Finger dicken Holzbrett besteht, ist mit Tempera-Farben gemalt worden, mit Eigelb und Wasser als Bindemittel, aber ohne Öl. Dafür sprechen die Tiefe und Durchsichtigkeit der Farben und auch ihre strahlende Leuchtkraft. Aber auch die Technik, mit kurzen Strichen und mit spitzen Marderhaarpinseln zu schraffieren. Und dazu der sanfte, matte Schimmer, ähnlich dem einer Eierschale, der besonders bei den dunklen Farben hervorsticht: Umbra für die Erde, Indigo für den Himmel und Schwarz aus verkohltem Elfenbein für die Schatten zwischen den Bäumen des Gartens Getsemani.
Die Gesichter sind in Auripigment ausgeführt, einer giftigen Farbe, die mit dem Arsen verwandt ist.
Ich runzele die Stirn. Ist das eine Vorsichtsmaßnahme, um die Ikone zu schützen? Die obere Malschicht mit dem Rätsel? Oder die untere mit der Lösung des Rätsels?
Ich halte das Bild noch ein bisschen schräger, sodass sich das Licht der Kerze auf der Oberfläche spiegelt.
Jetzt sehe ich es! Schemenhaft schimmert die untere Malschicht durch die obere hindurch. In der Mitte des Bildes, unterhalb von Jesus Christus, der den Judaskuss erwartet, breitet sich eine glatte Fläche aus, die fast den gesamten Malgrund einnimmt: das ursprüngliche Bild unter der Übermalung.
Die Ikone ist also ein Palimpsest. Wie spannend!
Aber noch viel spannender ist meine Vermutung, dass die Übermalung der Ikone ein Geheimnis verbirgt.
Es ist wie immer bei mir: Herzklopfen, Zittern, fiebrige Ungeduld. Mein Schatzsucherfieber packt mich.
Auf der Werkbank sehe ich mich nach einem geeigneten Lösungsmittel um, aber dort finde ich nichts. Mit einer Handvoll Schleifsand und einem Lappen gehe ich schließlich zum Arbeitstisch zurück.
Mit energischen Bewegungen beginne ich, in der unteren rechten Ecke die oberste Malschicht abzukratzen.
Tatsächlich, unter der Erde von Getsemani erscheint ein Buchstabe in Goldschrift: ein Lambda, ein griechisches L.
Ich reibe vorsichtig weiter. Ein Delta, ein D.
Meine Hände zittern so stark, dass ich kaum noch den Lappen mit dem Schmirgelsand festhalten kann.
Ein M.
My. Alpha. Ny. Delta. Eta. Lambda …
Dann habe ich das ganze Wort freigelegt:
Μανδηλιον .
Kapitel 99
In der Werkstatt
22. Dezember 1453
Kurz vor zehn Uhr abends
Zitternd vor Aufregung starre ich auf den griechischen Schriftzug: Mandylion.
Jetzt aber vorsichtig, sonst schmirgele ich nicht nur das
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