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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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thront Jesus Christus als byzantinischer Kaiser mit dem Evangelium im Arm. Den Rand zieren funkelnde Juwelen: Rubine, Saphire, Topase, Amethyste, Perlen. Ich hebe den Deckel an und spähe hinein. Ein schweres Tuch aus Goldbrokat liegt darin, bestickt mit blutroten Kreuzen. Wie seltsam! Was war darin eingewickelt?
    Als Nächstes finde ich eine Ikone von Jesus Christus als Pantokrator, als Weltenherrscher, im kaiserlichen Purpurgewand mit dem Evangeliar auf den Knien. Die geschliffenen Juwelen auf dem gemalten Buch sind ein Vermögen wert. Die Ikone auf Blattgoldhintergrund ist einzigartig. Woher stammt sie? Ich drehe sie um und betrachte die zerborstene schlichte Holztafel, auf die das Heiligenbild gemalt wurde. Keine Inschrift.
    Und keine Erinnerung.
    Noch ein Buch. Winzig klein. Zwei Finger breit, drei Finger hoch. In Gold gefasst und mit einem Rubin und einem orthodoxen Kreuz verziert. Ich schlage es auf. Die griechische Schrift ist ohne Brille kaum zu lesen. Ich blinzele. Dieses Buch, das kaum größer ist als ein Amulett, enthält das gesamte Neue Testament! Unglaublich!
    Weiter! Zwei silberne Dosen und ein silbernes Handkreuz, deren Wert sich mir nicht auf den ersten Blick erschließt. Sind es Reliquiare? Habe ich die Überreste von Heiligen vor der Vernichtung bewahrt?
    Immer noch keine Erinnerung.
    Ein schlichtes Leinensäckchen enthält fünf kieselsteingroße Saphire. Verwirrt starre ich die glitzernden Steine an. Halte ich etwa die Kronjuwelen von Byzanz in der Hand?
    Ganz unten in der Truhe finde ich eine Pergamentrolle. Es ist ein Stadtplan von Konstantinopolis. Das Meer, die Berge, die Befestigungen. Die Kuppel der Hagia Sophia, die Türme des Blachernen-Palastes, das Hippodrom. Sogar die gewaltige Sperrkette über das Goldene Horn ist zu erkennen. Habe ich die Karte gezeichnet? Was bezeichnen die beiden blutroten Kreuze? Das eine markiert eine Kirche im Nordosten der Stadt, das andere einen Turm im Südwesten. Was hat die Karte zu bedeuten? Ich weiß es nicht. Ich rolle den Plan wieder zusammen und lege ihn zurück in die Truhe.
    Und was ist das? Ein kleines Kästchen, das mit purpurnem Samt bezogen ist, enthält ein goldfarbenes Glasfläschchen. Darin ist ein bräunliches Pulver. Und ein winziger silberner Löffel. Was ist das? Es sieht aus wie karamelisierter Zucker oder wie zerstoßener Weihrauch.
    Unter dem Fläschchen ragt ein gefalteter Zettel hervor. Ich ziehe ihn heraus und falte ihn auseinander. Die griechischen Worte sind mit Purpurtinte geschrieben worden.
    Es wirkt schnell und zuverlässig. Du wirst nichts spüren. Nimm es , falls die Türken in die Stadt eindringen. Mehmed wird dich bis in die Hölle jagen.
    Leb wohl ,
    28. Mai 1453
    Konstantin
    Gift?, denke ich bestürzt. Konstantin hat mir Gift gegeben? Als letzte verzweifelte Flucht vor Mehmeds Zorn.
    Ich öffne das Fläschchen und rieche daran. Den Duft kenne ich aus Granada. Die Wirkung auch. Es ist Haschisch.
    Verdrängen, verleugnen, vergessen. Die schreckliche Wahrheit nicht akzeptieren. Träume und Visionen anstelle von Erinnerungen. Was ist wahr und was nicht? Was ist in Byzanz wirklich geschehen? Und was sind wahnhafte Fantasien im Haschischrausch, die ich für Wirklichkeit halte?
    Ich weiß, wie viel Haschisch ich nehmen muss, um die Strapazen einer monatelangen Belagerung durchzustehen, das Glockenläuten, den Kanonendonner, das Geschrei, den Gestank, den Hunger, den Durst, die Erschöpfung, die Hoffnungslosigkeit und die Todesangst. Und ich weiß, wie viel ich von diesem Gift nehmen muss, um in Würde zu sterben. Um nicht misshandelt zu werden, gedemütigt, verschleppt, versklavt, vergewaltigt oder gepfählt.
    Erschüttert lege ich das Fläschchen zurück in das purpurne Samtkästchen. Meine Hände zittern, als ich mich auf den Rand der Reisetruhe stütze, um noch einmal hineinzuspähen.
    Eine Phiole aus Glas und eine gespitzte, aber unbenutzte Schreibfeder – die Spitze ist nicht tintenschwarz. Verwirrt ziehe ich den Korken aus der Phiole und rieche an der trüben Flüssigkeit. Zitronensaft? Merkwürdig. Mit der Zungenspitze lecke ich vorsichtig am Korken. Sauer und bitter. Zitronensaft, tatsächlich. Eine Geheimtinte? Auch die Feder riecht säuerlich. Also gut, ich habe mit Geheimtinte geschrieben, die nur in der Flamme einer Kerze sichtbar gemacht werden kann. Was habe ich geschrieben? Wann? Wo? Ich schlage mein Notizbüchlein auf und rieche daran. Kein Zitronenduft. Falls ich eine geheime Notiz verfasst habe, dann nicht

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