Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
überwachen.«
»Gut.«
»Zwei Großprioren überschlagen sich, um deine Wünsche zu erfüllen. Und der Großmeister schreibt dir einen Brief. Sag mal, Fra Gil, wer bist du eigentlich?«
»Das willst du nicht wissen.«
»Will ich nicht?«
»Nein.«
»Bist du ein Hashishin? Ein Assassine? Der Orden hatte früher Verbindungen zu den Assass…«
»Ich bin … ibn Hafiz al-Gharnati. Ich stamme aus Gharnata, nicht aus Masyaf in Syrien.«
Also kenne ich Gil doch aus Granada! Wenn ich seinen Namen doch nur richtig verstanden hätte! Gil ist ein Assassine, ein Meuchelmörder? Was habe ich getan, dass er mich derart hasst? Und was hat er getan, dass ich ihn derart fürchte?
Das Blutbad auf dem glänzenden Marmorboden, das ich immer wieder sehe – gibt es in der Alhambra einen solchen Mosaikboden? Im Harem? Im Hamam? Im Thronsaal? Im Löwenhof? Ich kann mich nicht erinnern. Oder hat die Große Moschee von Granada einen solchen Boden?
Gil, wer bist du? Was haben wir einander angetan?
Gil öffnet die Kapsel, die am Fuß einer Brieftaube befestigt war, und zieht einen winzigen aufgerollten Zettel hervor. Rasch entfaltet er ihn und liest die wenigen Zeilen. »Verflucht!« Er stampft mit dem Fuß auf.
»Was schreibt der Großmeister?«
»Wir sollen die Reliquie nach Rhodos bringen. Fra Jean Bonpart de Lastic fürchtet einen neuen Angriff der Mamelucken. Wenn Sultan Uthman al-Mansur von Ägypten aus die Insel erobert, verlieren wir unser Hoheitsgebiet. Du weißt, was das bedeutet.«
»Ich weiß, was mit den Templern geschehen ist, die kein souveränes Reichsgebiet hatten.« Lionel nickt. »Und was ist mit unserer schlafenden Schönen?« Er deutet auf das Fenster, hinter dem ich mich verberge, sieht aber nicht zu mir hoch. »Wir wollen doch nicht warten, bis ein Prinz sie in ihrem Turmzimmer wachküsst? Oder ihr Cousin? Dann gnade uns Gott der Allmächtige. Oder bist du ihr Prinz?«
Mein Herz schlägt bis zum Hals, als ich mich noch ein wenig weiter hinauslehne. Wieso bezeichnet Lionel den maurischen Ritter als Prinzen?
»Die gescheiterte Geheimoperation muss unbedingt vertuscht werden«, sagt Gil. »Das Ansehen des Ordens steht auf dem Spiel. Wir waren dort, aber wir haben die Eroberung durch die Türken nicht verhindern können.«
»Und was heißt das nun?«, fragt Lionel.
Gil zögert. Er wischt sich die Schneeflocken von der Stirn. »Sie muss sterben, sobald wir die Reliquie gefunden haben.«
Lionel bekreuzigt sich langsam und küsst seine Finger.
Kapitel 8
In der Zelle des Abtes
21. Dezember 1453
Kurz nach zwölf Uhr mittags
Genug gehört! Ich brauche eine Waffe, ein Schwert, einen Dolch, irgendwas!
Als ich mich umwende, um das Fenster zu schließen, sehe ich zwischen den Eisblumen mein Spiegelbild. Im Glas spiegelt sich eine hochgewachsene, schlanke Frau, deren Gesichtszüge jedoch unscharf sind. Ich sehe angespannte Schultern, im Wind wehendes Haar, geballte Fäuste. So schwach, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann, so müde, dass sie einfach nur ins Bett fallen möchte, aber nicht wehrlos.
Nach einem letzten Blick auf Gil und Lionel unten im Schneegestöber schließe ich das Fenster und verriegele es. Den hereingewehten und in der Hitze des Kaminfeuers geschmolzenen Schnee wische ich rasch mit dem Saum meines Habits auf. Leider bleibt der durch das Feuer rußschwarze Staub daran hängen. Gil wird merken, dass ich das Bett verlassen habe! Egal, weiter! Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich hangele mich von Bettpfosten zu Bettpfosten und taumele hinüber zum Tisch. Schwer atmend lasse ich mich auf einen mit rotem Leder bezogenen Stuhl sinken.
Ich bin zum Umfallen müde. Aber ich darf nicht schlafen. Ich muss wach sein, wenn mein Prinz zurückkommt.
Ich schüttele den Gedanken an Gil ab. Zeit zu handeln.
Mein Blick irrt durch den Raum. Das Bett, der Tisch, die Stühle, die beiden Reisetruhen. Keine persönlichen Gegenstände, die mir verraten könnten, wer ich bin. Gil hat also aufgeräumt, nachdem er meine Wunden versorgt, mich ins Bett gebracht, das Blut aus meinen Sachen gewaschen und mir seinen Habit übergezogen hat. Außer dem Schürhaken, der neben dem Kamin an der Wand lehnt, werde ich wohl keine Waffe finden.
Ich lasse mich zu Boden gleiten und krieche zu der Truhe zurück, in der ich vorhin meine Kleidung gefunden habe. Ich klappe den Deckel auf, wühle mich hastig durch Unterwäsche, Hemd und Hose und ertaste Reitstiefel aus weichem Leder. Der Größe nach könnten es meine sein.
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