Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Falle.
Rasch ziehe ich Galceráns Rasiermesser aus meinem Stiefel und wickele mich in den Vorhang zwischen den Zellen. Wie in ein Leichentuch. Zum Glück hat Gil die Tür offen gelassen, sodass der Wind hereinfegt und die Vorhänge bewegt.
Er kommt.
Nur nicht bewegen! Nur nicht vor Schwäche in die Knie sinken! Oder vor Angst keuchen! Mein Herz pocht so laut, dass ich denke, er muss es hören. Mit angespannten Schultern spähe ich durch den schmalen Schlitz.
Da ist er.
Meine Finger verkrampfen sich um den Griff des kleinen Messers. Ein Blick in meine Richtung, und ich …
Doch Gil stapft an mir vorbei und bleibt vor seinem Bett stehen.
Dann ist es still.
Was tut er?
Gil steht noch immer reglos vor seinem Bett.
Die Bettdecke ist zerwühlt! Das Kopfkissen … Ich habe das Notizbuch einfach auf das Bett geworfen, es nicht unter das Kissen geschoben.
»Fra Gil?«, ruft Lionel von draußen.
Knirschende Schritte. Er scheint eine verschneite Treppe zum Dormitorium heraufzusteigen.
»Fra Gil!«
»Was ist denn?«, antwortet Gil wütend.
»Nun mach schon, es wird bald dunkel! Der Weg ist tief verschneit!«
Gil antwortet nicht. Reglos verharrt er keine drei Schritte von mir entfernt vor seinem Bett.
Wenn ich ihn doch nur sehen könnte! Aber das Licht kommt von der falschen Seite – kein Schemen schimmert durch das weiße Leinen.
Lauscht Gil auf ein Rascheln von Stoff? Auf ein Knirschen von Leder auf Stein? Auf das Schnaufen eines tiefen Atemzugs, den ein Mensch in seiner Todesangst macht?
Nicht bewegen! Nicht atmen! Nicht nachdenken und auf keinen Fall in Panik geraten!
Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich halte die Luft an. Und warte ab.
Schließlich macht Gil einen Schritt auf das Bett zu und zieht die Bettdecke glatt. Dann nimmt er den Mantel seines Habits vom Haken, zieht ihn an und geht um das Bett herum.
Was tut er denn?
»Fra Gil!«, ruft Lionel ungeduldig. »Komm endlich! Der Abstieg dauert länger als eine Stunde. Und es schneit in dicken Flocken. Lass uns gehen!«
Gil steckt etwas ein, das kann ich hören. Sein Brevier?
Es muss sein Brevier sein, denn das nächste Stundengebet ist die Vesper, die in ein oder zwei Stunden gefeiert wird.
Dann verlässt er mit großen Schritten das Dormitorium.
Erleichtert atme ich auf, als er die Tür hinter sich zuschlägt und mit Lionel die verschneite Treppe hinunterpoltert. Er hat nicht nachgesehen, ob ich fest schlafe!
Ahnt er denn nicht, dass ich das Bett verlassen habe? Oder weiß er, dass ich hier bin, und lässt mich gewähren? Das Notizbuch lag nicht dort, wo er es hingelegt hatte …
Ich lausche auf das leise Rieseln des Schnees gegen die spitzbogigen Fenster am Ende des Dormitoriums.
Das Knirschen der Schritte im verharschten Schnee wird leiser und verstummt schließlich.
In der Abtei ist es still.
Ich wickele mich aus dem Vorhang und schlüpfe unter dem Leinen hindurch in Gils Zelle.
Ich muss das Büchlein …
Entsetzt bleibe ich stehen. Gil hat nicht sein Brevier eingesteckt …
… sondern mein Notizbuch.
Kapitel 16
In der Zelle des Abtes
21. Dezember 1453
Irgendwann vor fünf Uhr nachmittags
»… hast du vor?«, fragt Lionel und deutet auf etwas, das Gil in der Hand hält.
»… muss sich erinnern …«, antwortet Gil, als die beiden unter mir vorbeistapfen. Der fauchende Wind reißt ihm die Worte von den Lippen, sodass ich nicht alles verstehen kann, was er sagt. Also lehne ich mich noch weiter hinaus ins Schneegestöber. »… noch mehr Tote.«
»Dieu soit avec nous!« Lionel bekreuzigt sich und küsst seine Fingerspitzen.
Sobald die beiden im dichten Schneetreiben verschwunden sind, schließe ich das Fenster, taumele zum Bett hinüber und sinke erschöpft auf die Matratze. Der Weg in mein Schlafzimmer hat mich so sehr angestrengt, als wäre ich den Gran Sasso hinaufgestürmt.
Schließlich wische ich mir die geschmolzenen Schneeflocken aus dem Gesicht und rappele mich ächzend auf.
Keine Zeit!
Gil hat sein Brevier zurückgelassen. Er wird zur Vesper wieder hier sein! Er kann mich nicht stundenlang allein lassen, zumal er jetzt ahnt, dass ich eben im Dormitorium war …
Ich verlasse das Zimmer, schließe die Tür hinter mir, gehe den Gang entlang und steige die Treppe hinunter. Meine Knie zittern so sehr, dass ich beinahe stürze. Mir ist schwindelig. Erschöpfung. Hunger. Anspannung. Ist Adrian in der Abtei zurückgeblieben, um mich zu überwachen?
Ich habe das Ende der Treppe erreicht. Fünf hölzerne Stufen führen einen
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