Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
gemauerten Absatz hinunter. Von dem verwinkelten Gang aus grob gemauerten Bruchsteinen vor mir zweigt eine Tür in einer tiefen Nische ab. Eine schmale Wendeltreppe führt dorthin.
Die unregelmäßig geformten Wände, die massiv gemauerten Bögen und Halbbögen, die die wuchtige Decke stützen, das nackte Gestein, der Fels, der an einigen Stellen zwischen den Bruchsteinen aufscheint, als breche er mit elementarer Gewalt durch, das düstere Licht – ich habe das Gefühl, im Inneren einer archaischen Höhle zu sein. Das stetige Tropfen, das ich hören kann, verstärkt diesen Eindruck noch. Ich fröstele. Ich hätte mir Galceráns Mantel holen sollen.
Die Abtei am Ende der Welt hat mich in ihren Bann gezogen. Meine Stimmung wird immer düsterer. Eine Weile bleibe ich auf der untersten Stufe stehen und lausche auf das Tröpfeln und das Rascheln, das aus den Tiefen der Abtei zu mir dringt, dann kann ich meine Neugier nicht mehr zügeln.
Ich gehe die gewundene Treppe hinunter. Die Tür ist von der Feuchtigkeit des Winters aufgequollen und schabt kreischend über die Steinfliesen.
Eine Werkstatt. Die eine Seite aus Bruchsteinen gemauert, die andere Seite schroffer Fels. Das Gewölbe wirkt so erdrückend, als würde es jeden Augenblick über mir zusammenbrechen. Der muffige Geruch nach feuchtem Staub, getrocknetem Leim und rostigem Metall dringt mir in die Nase.
Eine Werkbank. Nägel und Haken aus rostigem Eisen. Darüber, an einem Brett an der Wand, Sägen, Bohrer, Hämmer, Meißel, Hobel, Stemmeisen, Winkel. Alles ordentlich aufgereiht und mit Haken befestigt. Alles rostig und mit Spinnweben bedeckt. Ein Kohlenbecken. Ein Amboss. Eine Schleifmaschine mit Schleifstein. Ein aufgerolltes Seil. Ein Korb mit Holzabfall als Kaminanzünder. Eine Schale mit eingetrocknetem braunen Knochenleim für das Binden von Büchern. Ein Reibstein für Farben, in dessen rauer Oberfläche noch feine karmesinrote Pigmente schimmern.
Auf einem anderen Tisch, der auch mit einer dicken Schicht Staub bedeckt ist, liegt ein Stapel vorbereiteter Pergamente zur Herstellung von Codices. Daneben stehen etliche Schalen mit gemahlenen Farbpigmenten für die Buchmalerei, die offenbar hier in dieser Werkstatt gerieben wurden, und ein Zinnbecher mit Federn und Pinseln. Ein kleiner Fetzen Blattgold liegt in diesem Durcheinander. Er sieht aus wie trockenes Herbstlaub.
Wieso sticht mir dieser winzige glitzernde Schnipsel ins Auge? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat Gil recht, und ich bin doch eine Reliquienhändlerin …
Auf einem Teil der Tischplatte liegt kein Staub. Wurde hier vor Kurzem noch gearbeitet? Stirnrunzelnd lasse ich meinen Blick über den Werktisch schweifen. Mit Blattgold und Farben? Ich blicke zum anderen Tisch hinüber. Und mit Leim?
Ich wende mich wieder dem Werkzeug zu.
Keine Laterne. Und nichts, was mir als Waffe dienen könnte.
Also weiter!
Ich gehe die schmale Treppe wieder hinauf in den Gang und dringe tiefer in dieses Höhlenlabyrinth vor. Etliche Schritte weiter stoße ich wieder auf eine Tür. Auch sie quietscht in ihren rostigen Angeln.
Das Scriptorium.
Ein langer, tunnelartiger Raum, der sich unter einem niedrigen Tonnengewölbe duckt. Die Schreibpulte der Mönche stehen in einer langen Reihe vor den Fenstern, die aussehen, als wären sie mit schwerem Werkzeug aus der grob gemauerten Wand herausgehauen worden, um ein wenig Licht in diese Höhle zu bringen. Ein Fenster ist zerborsten, Schnee wirbelt herein und sammelt sich in einer kleinen Verwehung zwischen zwei Stehpulten. Kein Kamin, denn die gegenüberliegende Seite besteht aus schroffem Fels. Der Stein glitzert, als sei er mit Raureif bedeckt.
Diese Abtei ist die Vorhölle. Da wo die Seelen eingesperrt sind, bevor sie befreit und erlöst werden. Ein düsterer und geheimnisvoller, ein schattenhafter und bedrohlicher Ort. Die Vorstufe zu Dantes Inferno.
Nein, verbessere ich mich, als ich den benachbarten Raum betrete, diese Abtei ist Dantes Inferno. Über dem Höllentor, das in die Bibliothek führt, müssten Dantes Verse stehen: Durch mich gelangst du zur Stätte des Grauens. Gib, wenn du eintrittst, alle Hoffnung auf!
Ein Anblick, der mich ins Herz trifft: Die durchhängenden Regale an den schroffen Wänden, die einst wohl Hunderte von kostbaren Folianten bargen, sind geplündert. Keine Bücher. Nur Staub und Spinnweben. Einige Regalbretter liegen auf den Bodenfliesen verstreut. An der Steinwand schimmert eine einsame Ikone im bläulichen Licht des schwindenden
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