Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
glaube, ich habe Fieber.
Wie kann ich unterscheiden, was wirklich geschehen ist und was nicht? Was mir irgendjemand erzählt hat oder was ich irgendwo gelesen habe? Was ich mir ausdenke, um mich vor den schmerzhaften Erinnerungen an das zu schützen, was ich getan habe? Was ich mir im Fieberwahn falsch zusammenfantasiere, weil ich die Menschen, die mir nach dem Leben trachten, nicht einschätzen kann, weil ich das, was sie tun, missverstehe?
Gil, was tust du mir an? Du fälschst mein Gedächtnis! Du treibst mich in den Wahnsinn!
Ich darf ihm nicht trauen. Aber was noch schlimmer ist: Ich darf mir selbst nicht mehr trauen.
Kapitel 14
Im Dormitorium
21. Dezember 1453
Gegen halb fünf Uhr nachmittags
Ich falte das Pergament auseinander, das aus Gils Brevier gefallen ist. Es ist eine Vollmacht des Großpriors von Rom. Ich überfliege die wenigen Zeilen … Fra Adrian d’Ivrea … Fra Lionel de Châtillon … Unterschrift und Siegel des Großpriors als Stellvertreter Seiner Exzellenz des Großmeisters Fra Jean Bonpart de Lastic. Gil hat also den Rang eines Kommandanten …
Ich schiebe die Vollmacht zurück ins Brevier und lege es wieder auf das Regalbrett.
Wo ist mein Notizbuch? Hat Gil es mitgenommen, als er ins Tal hinunterging?
Ein Geräusch lässt mich zusammenzucken.
Ein Knirschen.
Ich halte den Atem an und lausche auf Schritte, die näher kommen. Doch außer dem Heulen des Windes kann ich nichts hören.
Nein, alles ist still. Ich bin allein.
Ich nehme mir Gils Satteltaschen vor. Es ist wie bei Galceráns Gepäck: Ich finde nichts, was ein Mönchsritter den Ordensregeln gemäß nicht besitzen dürfte. Nichts, was mir verraten könnte, wer er ist oder war. Nicht einmal eine Erinnerung an Granada.
Du hältst dein Leben in Ordnung, Gil. Und bringst eine ziemliche Unordnung in mein Leben.
Wieder schrecke ich auf.
Donnernd schlägt irgendwo in der Abtei eine Tür zu.
Der Wind? Ich horche hinein in das Rauschen der Bäume vor den Fenstern des Dormitoriums.
Keine Schritte, kein Rufen, kein Quietschen einer Tür.
Es muss der Wind gewesen sein.
Ich schiebe Gils Satteltaschen wieder unter das Bett und schüttele die Bettdecke. Nichts. Dann hebe ich das Kissen an.
Mein Notizbuch!
Ich setze mich auf das zerwühlte Bett und schlage es auf.
Skizzen und Notizen.
Ein lesender Mönch in schwarzem Habit mit hochgezogener Kapuze. Mein Kommentar: Pantokrator-Kloster, 12. Januar 1453. Ich bin oft hier, um über Konstantins Bitte nachzudenken. Alles erinnert mich schmerzhaft an Niketas, der hier Abt war. Wie lange ist das her …
Am unteren Rand der Seite, neben der Zeichnung eines orthodoxen Mönches mit einem Semantron, einer hölzernen Stundentrommel, sehe ich eine Tagebucheintragung. Ich muss das Büchlein drehen, um die Notiz lesen zu können: Hagia Sophia, 29. Januar 1453. Langes vertrauliches Gespräch mit Konstantin. Er gibt nicht auf, er hat mich wieder gefragt. Ich ahne, wie verzweifelt er ist. Er braucht das Bündnis mit dem Papst. Er braucht die Genueser und die Venezianer, und er braucht meine Bravi. Was auch immer in den nächsten Wochen geschieht, ich werde die Stadt nicht …
Kapitel 15
Im Dormitorium
21. Dezember 1453
Kurz nach halb fünf Uhr nachmittags
Erschrocken fahre ich zusammen, als eine Tür aufgestoßen wird, die ich zwischen den Vorhängen bisher nicht bemerkt habe – sie muss zur Kirche führen. Wegen der nächtlichen Stundengebete befindet sich der Schlafsaal der Mönche immer in unmittelbarer Nähe der Kirche.
Der Wind stößt die Tür gegen eine Wand. Laut hallt das Donnergetöse durch das hölzerne Gewölbe des Dormitoriums. Die weißen Vorhänge zwischen den Betten der Mönche bauschen sich im Lufthauch. Vermutlich wirbeln Schneeflocken herein. Die eisigen Böen wehen das Geräusch von schweren Stiefeln in den Schlafsaal.
Gil!
Ich dachte, er wäre mit Lionel ins Tal hinuntergegangen!
Gedanken schießen mir durch den Kopf, während ich das Notizbuch zuklappe. War er in meinem Zimmer? Hat er das leere Bett gesehen? Weiß er, dass ich hier bin, um das Büchlein zu suchen? Was wird er mit mir tun, wenn er mich hier erwischt?
Hastig werfe ich das Notizbuch auf sein Bett und flüchte unter dem vorgezogenen Vorhang hindurch in die nächste Zelle. Gehetzt blicke ich mich um. Wohin jetzt? Die Vorhänge der Zelle sind offen!
Die Schritte nähern sich rasch. Gleich wird er hier sein!
Zitternd stehe ich neben dem Bett und presse mich gegen die Wand hinter mir. Ich sitze in der
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