Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
– mit dem Mandylion. Andernfalls hätte Fra Jean Bonpart de Lastic nicht nach Rom geschrieben, um Gil zu antworten.
Wieso eigentlich Gil? Wieso nicht Galcerán? Weil ich mit Galcerán gereist bin, während Gil uns gefolgt ist? Vielleicht.
Ich starre auf Galceráns Karte. Unsere Reise muss Monate gedauert haben. Wie habe ich es geschafft, so lange am Leben zu bleiben? Was hat mich mit Galcerán verbunden, der denselben Namen getragen hat wie ich? Zumindest behauptet das Gil.
Galcerán de Borja y Llançol de Romanì.
Ein aragonesischer Professritter des Johanniterordens von Rhodos. Ein Verwandter von Kardinal de Borja.
Und Adriana de Zafra y de Borja.
Eine Reliquienhändlerin aus Kastilien. Die von einem Mann im Papstornat den Auftrag erhalten hat, das Mandylion aus Byzanz herauszuschaffen. Die mit dem Schwert umgehen kann. Die eine Streitmacht von Bravi kommandiert. Die die abgeschlagenen Köpfe von Janitscharen ins Zelt des Sultans schießt.
Nein, nein, nein! Irgendetwas stimmt nicht an dieser Geschichte, die ich mir aus Erinnerungssplittern mühsam zusammensetze. Die Splitter passen nicht zusammen. Sie ergeben kein Bild.
Warum hat Galcerán mich in dieser Abtei angegriffen? Worum haben wir gerungen? Um den Schlüssel, den ich bei meinem Sturz in der Hand gehalten habe? Ich ziehe ihn unter meinem Hemd hervor und betrachte ihn von allen Seiten. Abgesehen davon, dass er nach rostigem Metall und Zitronensaft riecht, fällt mir nichts auf. Keine Erinnerung, kein Widerhall unseres Kampfes auf Leben und Tod, kein Herzrasen, nichts. Warum ist Galcerán tot, und warum lebe ich noch?
Wo ist sein Leichnam? Ich muss wissen, ob ich ihn getötet habe. Und wo ist sein Schwert?
Also weiter!
Mit Ausnahme des Rasiermessers, das ich in meinem Stiefelschaft verschwinden lasse, stopfe ich alles zurück in die Tasche und schiebe sie wieder unter das Bett. Schwankend rappele ich mich hoch und torkele zur nächsten Zelle, die durch einen Vorhang von Galceráns Bett getrennt ist.
Noch ein benutztes Lager!
Auf dem Regalbrett oberhalb des Kopfkissens finde ich ein Brevier. Ich schlage es auf. Kein Name. Aber ich vermute, es gehört Gil. Ebenso wie das arabische Buch, das darunter liegt. Abu Muhammad Ali ibn Ahmad ibn Sa’id ibn Hazm, genannt Ibn Hazm al-Andalusi hat dieses Buch geschrieben. Ich blättere darin. Ein Traktat über die Liebe? Auf Arabisch? Woher hat Gil denn dieses Büchlein über die Kunst des Liebens? Doch nicht aus der Bibliothek dieses Klosters!
Seltsam für einen maurischen Prinzen, der der orientalischen Sinnlichkeit entsagte, um ein christlicher Mönchsritter zu werden! Und der ein orientalisches Parfum benutzt. Ich nehme das Fläschchen vom Regal, ziehe den Korken heraus und rieche daran. Moschus, Zimt und Pfeffer.
Woran erinnert mich dieser sehr männliche Duft? An Granada. Und an … an … Ich suche in meinem Gedächtnis nach einem Gesicht, nach einem Namen, nach einer Erinnerung, aber da ist nichts. Nur Gil.
Das größte Rätsel von allen bist du, Gil Alvarez, früher bekannt als Ibn Hafiz al-Gharnati, Prinz von Granada.
Wer bist du?
Warum gibst du dich als mein Ehemann aus? Wieso rettest du mir nach meinem Sturz das Leben, bevor du mich lebendig begräbst? Warum küsst du mich sanft, bevor du mich vergiftest?
Und wieso bringst du mein Herz zum Rasen, wenn du in meiner Nähe bist? Ist es Angst? Oder Wut? Oder Hass? Oder etwas anderes?
Wieder greife ich zum Brevier, schlage es auf und schüttele es. Eine gefaltete Seite fällt heraus. Und ein zerknitterter Zettel.
Ich streiche ihn glatt.
Der Brief des Großmeisters Fra Jean Bonpart de Lastic.
Ich überfliege die wenigen Zeilen in winziger Schrift: der Befehl, mich zu töten und das Mandylion nach Rhodos zu schaffen. Fra Jean fürchtet einen erneuten Angriff der Mamelucken unter Sultan Uthman al-Mansur.
Unvermittelt taucht ein Bruchstück meiner Vergangenheit auf. Ein im Wüstensand verschüttetes, vergrabenes, vergessenes Fragment. Ägypten. Die großen Pyramiden. Ein Sandsturm. Eine Grabkammer, schwarz, düster, erdrückend. Ein Totengott mit der schwarzen Schakalsmaske des Anubis, der sich über mich beugt, um mich bei lebendigem Leib zu mumifizieren. Finsternis. Schmerz. Angst. Tod. Dann ist Uthman neben mir. Er schiebt mir etwas in die Hand. Das Siegel des Imhotep, flüstert er mir zu. Das Siegel der Unsterblichkeit …
Ich lasse den Brief fallen und fahre mir mit beiden Händen über das Gesicht. Ich schwitze. Und ich zittere. Ich
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