Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
müde …
Ich atme tief durch.
Im bläulichen Licht der Abenddämmerung sehe ich mich um.
Es ist das Dormitorium der Mönche. Unverputzte Steinwände, grob zusammengefügt, darüber ein Gewölbe aus schweren Holzbalken. Reihen von Zellen aus weißen Stoffbahnen, die von aufgestellten Eisenstangen herabhängen, zu beiden Seiten eines langen Mittelganges. Am hinteren Ende des Ganges erkenne ich eine Statue des heiligen Benedikt von Nursia aus dunklem Holz, der zum innigen Gebet niedergekniet ist. Zu Benedikts Füßen, unterhalb der beiden spitzbogigen Fenster, die mit einer Schicht aus Eis und Schnee bedeckt sind, stehen der Tisch und der Scherenstuhl des Significator Horarium, der im Schlafsaal mit der Stundenkerze die Nachtwache halten soll. Die Ordensregel der Benediktiner ist streng.
Die meisten Vorhänge zwischen den schmalen Betten sind zurückgezogen. Ich zähle achtunddreißig Zellen. Aber wo sind die Mönche? Wieso ist die Abtei verlassen?
Nicht lange nachdenken, weiter!
Das erste Bett in der Reihe gegenüber der Tür wurde benutzt. Die Wolldecke und das Federkissen sind zerknittert und wieder glatt gestrichen. Die Kerze auf dem Brett neben dem hölzernen Crucifixus ist bis zum Ende des Dochtes heruntergebrannt.
Wer schläft hier?
Ich setze mich auf das Bett, ziehe die Tasche darunter hervor und wühle in den wenigen Habseligkeiten eines Mönchsritters. Ich brauche eine Waffe.
Lavendelseife. Rasiermesser. Nähzeug. Ein ordentlich gefalteter Waffenrock, schwarzer Stoff, weißes Johanniterkreuz. Ein leichtes Kettenhemd. Eine Cotte, ein Hemd aus festem Leinen. Ein Gambeson, eine wattierte und gesteppte Tunika, die unter dem Kettenhemd oder der Rüstung getragen wird. Ich bin erstaunt, wie gut ich mich damit auskenne. Warum bin ich mit dem Waffenhandwerk vertraut? Wieso habe ich in der Schlacht um Byzanz wie ein Ritter gekämpft? Warum kann ich mit dem Schwert so gut umgehen, dass ich einem Janitscharen den Kopf abschlagen konnte? Woher diese unglaubliche Kraft? Woher dieser Blutrausch, diese Wildheit? Ich atme tief durch und wühle weiter. Kein Helm, kein Harnisch, keine Beinschienen, keine Waffen wie Schwert, Dolch, Streitkolben, Streitaxt, Armbrust, und auch kein Schild. Hat er seine Kampfausrüstung in Byzanz gelassen und bei der überstürzten Flucht vor den Türken nur seinen Habit mitgenommen?
Ganz unten finde ich ein Brevier für die Stundengebete. Der abgegriffene Ledereinband und die Seiten sind aufgequollen und aufgefächert, als hätte das Büchlein stundenlang im Wasser gelegen. Ich schlage es auf. Auf der Innenseite des welligen Einbandes steht ein Name. Die Tinte ist so blass, dass ich den Schriftzug kaum noch entziffern kann.
Fra Galcerán de Borja y Llançol de Romanì
Ich blättere durch das Brevier und finde auf der Innenseite des Einbandes ganz hinten im Buch eine grob skizzierte Karte. Hat Galcerán sie abends am Lagerfeuer gezeichnet? Habe ich ihm dabei zugesehen? Zwei Orte auf der Karte sind dunkler verfärbt als der Rest, einer am linken Rand, einer am rechten: Rom und Rhodos. Haben wir mit den Fingern auf der Karte unsere Flucht geplant? Haben wir uns dabei gestritten?
Eine Linie – vermutlich unsere Reiseroute – führt von Konstantinopolis mitten durch türkisch besetztes Gebiet über Thessaloniki nach Athen, weiter nach Mistra, das noch griechisch ist, dann über das Meer nach Ephesos, an der türkischen Küste nach Süden, an der Insel Rhodos vorbei nach Kreta. Von dort aus an der griechischen Küste entlang nach Norden, dann durch die Straße von Otranto die italienische Küste hinauf bis Ancona. Dann wieder nach Süden, durch die tief verschneiten Abruzzen bis zu dieser verlassenen Abtei auf einem Berg unweit des Gran Sasso. Irgendwo zwischen Ascoli und Aquila.
Ascoli? Das Städtchen sagt mir etwas. Ich denke angestrengt nach. Nein, da ist keine Erinnerung, nur ein vages Gefühl. Eine Ahnung, dass ich der Wahrheit auf der Spur bin. Haben Galcerán und ich in Ascoli übernachtet? Hat mich dort der Schäfer erkannt?
Ich weiß es nicht. Zurück zur Karte.
Eine ziemliche Odyssee!, denke ich, während ich noch einmal mit dem Finger unseren Fluchtweg nachzeichne. Zweitausend Meilen, wenn nicht mehr, übers Land und übers Meer. Und ganz nah an Rhodos vorbei. Der Großmeister muss unser Segel schon am Horizont gesehen haben. So nah, und doch unerreichbar fern!
Gil muss ihm von Kreta aus nach Rhodos geschrieben haben, um ihm mitzuteilen, dass wir nach Italien weiterreisen
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