Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Tages.
Ein unerwartetes Lebenszeichen: Eine Maus flitzt zwischen meinen Stiefeln hindurch und verschwindet unter einer Tür auf der linken Seite des Raums.
Das Bild der Verwüstung drückt mich nieder.
Durch die erschreckende Vision eines Feuersturms, eines Scheiterhaufens aus brennenden Büchern, Instrumenten und Ikonen, die mich plötzlich wie unter Schmerzen aufstöhnen lässt, kämpfe ich mich mit geschlossenen Augen zu der Tür vor. Taumelnd pralle ich mit der Schulter dagegen und warte, bis das Feuer meiner Erinnerung ausgebrannt ist. Dann versuche ich, die Tür zu öffnen.
Sie ist verschlossen.
Ich ziehe mir das Band mit dem Schlüssel über den Kopf und stoße ihn in das Schloss. Er bewegt sich nicht. Ist das Schloss verrostet? Oder nur verklemmt?
Ich drücke, drehe, zerre, bis der eiserne Schlüssel schließlich zerbricht. Nein, er zerbricht nicht. Er bricht in zwei Teile auseinander. Der Schaft mit dem Bart bleibt verkantet im Schloss stecken, während ich plötzlich nur noch die verzierte Reide, also den Griff, in der Hand halte.
Nein!
Umständlich fingere ich den Schaft aus dem Schloss und betrachte beide Teile. Die verzierte Reide hat einen hohlen Schaft mit einem Innengewinde. Auch der Bart hat einen hohlen Schaft mit einem Außengewinde. Durch mein gewaltsames Zerren an dem Schüssel sind beide Gewinde ausgerissen. Die beiden Teile des Schlüssels lassen sich zusammenschrauben und bilden auf diese Weise ein Versteck für den kleinen zusammengerollten Pergamentzettel. Mit spitzen Fingern zupfe ich ihn aus dem Schaft heraus und rolle ihn auseinander.
Verwirrt starre ich den zerknitterten Zettel an.
Er ist leer.
Intermezzo 1
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Gegen halb zwölf Uhr mittags
»Er war leer?«, fragt mich der Kardinal, der in den letzten anderthalb Stunden, während ich erzählte, unruhig auf seinem Sessel herumrutschte.
Ich nicke.
»Was soll das?« Verwirrt starrt er auf den Schlüssel, der neben dem Reliquiar des Mandylions auf dem Tisch liegt. »Wer hat den Zettel in den Schlüssel geschoben? Einer der Mönche? Oder Gil? Oder du?«
»Wenn ich es war: Wieso stand keine Nachricht auf dem Zettel, keine Skizze, keine Schatzkarte? War der Zettel für mich bestimmt? Oder für Gil?« Ich atme tief durch. »Das sind die Fragen, die mich in diesem Augenblick umtreiben: Hat Gil den Zettel gefunden? Kennt er das Geheimnis dieses Schlüssels? Hat er ihn mir deswegen zurückgegeben? Damit ich ihn zum Versteck des Mandylions führe?«
Er verzieht die Lippen. »Und dann?«
»Ich drehte den zerknitterten Pergamentfetzen um.«
»Und?«
»Nichts.«
»Gar nichts?«, fragt er ungläubig.
»Kein Tropfen Tinte. Ich wollte den Zettel schon in den Schlüsselschaft zurückschieben, als ich – ich weiß nicht, warum – dran roch. Zitrone.«
»Die Geheimtinte in der Truhe in deinem Schlafzimmer.«
»Richtig.«
»Ich kann mir vorstellen, wie aufgeregt du warst! Eine fiebrige Erregung hatte dich gepackt, ein Herzklopfen, ein Schatzsucherfieber, das deine Hände vor Aufregung und Ungeduld zittern ließ.«
»Ich habe mich gefragt, ob Gil recht hat. Dass ich eine Reliquienhändlerin und eine Schatzsucherin bin. Warum eigentlich nicht? Ich sollte das Mandylion, eine nicht von einem Menschen hergestellte Reliquie, aus dem brennenden Byzanz retten …«
»Und? Hast du die Nachricht entschlüsselt?«, fragt er gespannt.
»Nein, ich brauchte eine Kerze, um die geheime Nachricht in der Hitze der Flamme sichtbar zu machen. Und ich war zu aufgeregt, um mich daran zu erinnern, dass in meiner Zunderdose ein Kerzenstummel steckt.«
Er nickt. »Aber mittlerweile hast du die Schrift sichtbar gemacht.«
Ich zögere einen Augenblick. Soll ich ihm das Geheimnis anvertrauen? Ist er derjenige, der zu sein er vorgibt? Kann ich ihm trauen? Aber wie soll ich es anders herausfinden? Schließlich nicke ich. »Gestern Abend.«
»Und seitdem suchst du das Mandylion.« Er mustert mich aufmerksam. Angespannt. Immer wieder irrt sein Blick zu dem zerbrochenen Schlüssel, der zwischen uns auf dem Tisch liegt.
Vertraut er mir ebenso wenig wie ich ihm?
»Ja«, nicke ich voller Argwohn.
»Darf ich den Zettel sehen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, zieht er den Schlüssel zu sich heran, schraubt den unteren Teil ab und sucht die geheime Nachricht. »Wo ist der Fetzen?«, fragt er.
»Ich habe ihn nicht mehr.«
»Willst du damit sagen, dass er ihn …«
»Ja.«
»Verdammt!«, flucht er und schlägt mit der Faust
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