Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
kein Stampfen von Hufen, kein Knarren des vor Kälte steifen Sattelzeugs.
Da ist der Pferdestall. Daneben ein Holzschuppen.
Meine schlimmsten Befürchtungen werden wahr. Der Schnee fällt so dicht, dass ich fast nichts sehen kann. Aber eines erkenne ich doch: Federico ist nicht da.
Keine Spuren im Schnee. Weder von Stiefeln noch von Hufeisen. Dafür sehe ich die Spur eines Wolfes, die den tief verschneiten Weg heraufführt und zwischen dem Aedificium und den Ställen hindurch in der Finsternis verschwindet. Da hinten schimmert ein Dickicht.
»Federico!«
Ich gehe weiter und lausche. Aber bis auf den Wind, der in den Bäumen rauscht, ist alles ruhig.
Ich schiebe das Stalltor auf und gehe hinein. Im Stall ist es dunkel und warm. Ich taste mich vorwärts. Ein Ballen Stroh. Über einer Holzwand hängt ein Sattel. Als ich gegen ihn stoße, rutscht der hochgezogene Steigbügel über das Leder und kracht gegen das Holz. Ich zucke zusammen.
»Federico?«
Ich krame mein Feuerzeug hervor, zünde die Altarkerze an und sehe mich um. Drei Pferde gucken neugierig zu mir herüber, alle ohne Sattel und Zaumzeug.
Ich ringe mit den Tränen und muss schlucken.
Federico war nie hier. Ich bin auf mich allein gestellt. Und habe das entsetzliche Gefühl, es allein nicht zu schaffen. Den Berg hinunter. An der Templerkomturei vorbei. Durch den Schneesturm und die tief verschneite Wildnis der Abruzzen. Bis nach Aquila.
Das ist lebensgefährlicher Wahnsinn! Und doch ist es der einzige Ausweg! Ich muss verschwinden, bevor Jibril mich tötet oder ich den Verstand verliere!
Langsam gehe ich zu den Pferden hinüber. Ich weiß nicht, welches das meine ist. Daher entscheide ich mich für einen rassigen Schwarzen. Ich sattele ihn und führe ihn mit der Hand auf den Nüstern aus dem Stall.
Der Wolf, der irgendwo in der Nähe herumstreunt, macht den Hengst unruhig. Er schnaubt, scharrt mit den Hufen, tänzelt ängstlich um mich herum und versucht zu steigen.
»Schscht! Ganz ruhig, mein Kleiner!«
Ich führe ihn über den Hof.
Den Weg ins Tal, kaum mehr als ein zugeschneiter Trampelpfad mit Jibrils, Lionels und Adrians Spuren, muss ich im Schneetreiben und in der Dunkelheit erst suchen. Die Wolken hängen mittlerweile so tief, dass sie wie dichter Nebel zwischen den Bäumen wabern. Das Stapfen durch den verharschten Tiefschnee ist sehr anstrengend, und ich gerate schnell außer Atem, als ich mit dem Hengst am Zügel Schritt für Schritt ins Tal hinabschlittere.
Der Pfad wird schmaler, die Dunkelheit wird tiefer, der Nebel wird dichter. Das Gehen im tiefen Schnee wird immer schwieriger und immer gefährlicher, weil ich die Spuren kaum noch erkennen kann. Angestrengt starre ich durch die wirbelnden Schneeflocken, sodass meine Augen in der Kälte tränen. Sodass ich Dinge sehe, die gar nicht da sind …
Trotz Anspannung und Erschöpfung muss ich an Jibril denken, während ich keuchend durch die Wildnis stapfe und die Abtei hinter mir zurücklasse. An die Skizze von ihm in meinem Notizbuch. Eine sehr lebendige Zeichnung, die zu atmen scheint. Kein Gekritzel, das in wenigen Augenblicken aufs Papier geworfen wurde, sondern eine ausgearbeitete Charakterstudie, für die ich gewiss länger gebraucht habe als eine halbe Stunde. Woran habe ich gedacht, als ich ihn zeichnete?
Haben wir uns danach noch einmal wiedergesehen? Haben wir miteinander gesprochen? Worüber? Über das, was geschehen war? Oder über das, was unvermeidlich geschehen würde – über die Eroberung durch die Türken? Über unsere Hoffnungen und Ängste?
Ich versuche, mir die Szene vorzustellen. Wo ist das gewesen? Wann? Aber da ist keine Erinn…
Mit einem Stöhnen falle ich rücklings in den Schnee. Ich bin ausgeglitten, denn ich habe nicht mehr auf den steil abfallenden Weg geachtet. Ein Stein oder ein abgerissener Ast bohrt sich schmerzhaft in meine Seite.
Fluchend richte ich mich auf und blicke in den mit Bäumen bewachsenen Abgrund. Fast senkrecht fällt der schroffe Felshang neben mir ab in die Tiefe. Ein falscher Schritt …
Ächzend ziehe ich mich am Steigbügel hoch und greife nach dem Zügel.
Der Hengst schüttelt die Mähne und schnaubt. Eine weiße Atemwolke hüllt ihn ein.
Mit einer Wucht, die mir den Atem nimmt, kehrt plötzlich die Erinnerung zurück.
Ein Geräusch lässt mich herumwirbeln.
Bedrohlich langsam kommt Galcerán auf mich zu. In seiner Hand hält er das bluttriefende Schwert, mit dem er gerade Cesare enthauptet hat. Der Kopf meines Mannes
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