Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
ihn hinunterrieseln lässt, dann bleibt er irgendwo liegen.
Mit zitternden Knien spähe ich in den Abgrund, kann ihn jedoch nirgendwo sehen. Er liegt dort unten zwischen den Bäumen. Ob er noch lebt?
Ein leises gequältes Wiehern.
Ich muss zu ihm!
Auf allen vieren rutsche ich zum Abgrund und blicke nach unten. Ist das steil! Klettern? Unmöglich! Ich würde abrutschen!
Ich richte das Schwert unter meinem Rücken so aus, dass ich wie auf einer Schlittenkufe über den Steilhang nach unten gleiten kann, ohne mir das Rückgrat zu brechen, hebe den Kopf an und lasse los. Immer schneller rutsche ich über den Hang nach unten, überschlage mich ein Mal, zwei Mal, dann pralle ich mit voller Wucht gegen den Rücken des Hengstes, der unter einer wuchtigen Bergkiefer mit weit ausgreifenden Ästen liegen geblieben ist.
Er hebt den Kopf und stößt klägliche Laute aus.
»Ich bin ja da, mein Kleiner!«, beruhige ich ihn. Ich klettere über seine nur noch schwach strampelnden Beine und hocke mich neben seinem Kopf in den Schnee. »Sei ganz ruhig, gleich ist es vorbei.«
Während ich ihm sanft über die blutigen Nüstern streiche, um ihn zu trösten, ziehe ich, ohne dass er es sehen kann, meinen Dolch.
Ein rascher Schnitt durch die Kehle.
Ein letztes Schnaufen, dann brechen seine Augen.
Er ist tot.
Keuchend lasse ich mich in den Schnee sinken.
Ich bin allein. Ohne das Pferd schaffe ich es nicht bis Aquila.
Was jetzt? Mein Blick irrt den steilen Abhang hinauf zum Weg. Wie soll ich da hinaufklettern!
Ich erstarre zu Eis.
Ein schwarzer Schatten beugt sich über den aufgewühlten Schnee der Absturzstelle, richtet sich wieder auf und blickt zu mir herunter.
Der Yeniçeri!
Kapitel 44
Auf dem verschneiten Abhang
22. Dezember 1453
Gegen halb ein Uhr nachts
Hat er mich bemerkt? Wird er herunterkommen, um nachzusehen, ob ich mit dem Pferd abgestürzt bin?
Hastig blicke ich mich um nach einem Versteck, nach einer Nische im Felsabhang, einer Baumwurzel, einer Schneeverwehung, einem Dickicht, wo ich mich verbergen kann.
Einige Schritte unter mir liegt ein umgestürzter Bergahorn. Seine knorrigen Wurzeln sind aus der Erde herausgerissen. Wahrscheinlich hat er im Sturm den Halt verloren und ist mit dem Wipfel voran in den Abgrund gekippt. Die erdigen Wurzeln bilden eine kleine Höhle. Dort kann ich hineinkriechen.
Ich rutsche über den Abhang bis hinunter zu dem Wurzelgeflecht, wo ich mich, geschützt vor dem eisigen Wind, schwer atmend in den Schnee sinken lasse und zusammenkauere. Erschöpfung, Verzweiflung und Angst umfangen mich mit einer düsteren Schwere.
Er kommt tatsächlich den Abhang herunter! Neben dem Hengst richtet er sich auf und sieht sich um.
Er sucht mich.
In eine dichte weiße Atemwolke gehüllt, blickt er sich um. Er entdeckt die Schleifspur, die ich hinterlassen habe, als ich nach unten rutschte. Er kniet sich hin und betrachtet sie aufmerksam. Dann hebt er den Blick und späht aufmerksam in meine Richtung. Aber er kann mich nicht sehen, weil meine schwarze Kleidung, die zwischen den dunklen Wurzeln des Bergahorns kaum zu erkennen ist, inzwischen schon mit einer Schicht Schneeflocken bedeckt ist.
Er rutscht noch einen Schritt weiter, dann bleibt er stehen.
»Contessa Alessandra?«
Ich halte den Atem an.
Schlitternd kommt er noch einen Schritt näher, dann rutscht er aus, fällt hin und rappelt sich fluchend wieder auf.
»Contessa Alessandra!«
Er kommt nicht näher. Er hat wohl Angst, in die Tiefe zu stürzen.
Erleichtert atme ich auf, als er schließlich umkehrt und sich den Abhang wieder hinaufkämpft. Beim toten Hengst rastet er kurz, und ich fürchte schon, er entdeckt den Schnitt, mit dem ich das Tier von seinen Qualen erlöst habe. Er würde wissen, dass ich noch lebe. Er würde mir folgen, um mich zu töten.
Aber nein! Der Yeniçeri wendet sich um und keucht den steilen Felshang wieder hinauf zum Weg. Irgendwann verschwindet er hinter einem Dickicht, und ich kann ihn nicht mehr sehen.
Ich atme auf: Ich bin allein.
Erschöpft lehne ich mich gegen die Wurzeln. Ein bisschen Ruhe täte mir gut. Aber ich darf auf keinen Fall einschlafen. Bei dieser Kälte würde ich die Nacht hier draußen nicht überleben.
Mit beiden Händen schiebe ich den Schnee zu mir heran und baue einen kleinen Schneewall um mich herum, der mich vor dem eisigen Wind schützt. Dann kauere ich mich in meiner nassen Kleidung zitternd in meiner Mulde zusammen, entzünde im Windschatten der Schneewand die Altarkerze und
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