Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
einen besseren Blick hatte?
Es gibt nur eine Schlussfolgerung.
Ich habe die Schiffe nicht gezeichnet. Ich konnte es gar nicht, weil ich zu der Zeit woanders war: Ich habe mich mit dem Basileus und dem Megadux beraten, wie wir die Flotte vernichten können.
Aber wer war es dann? Mein Blick huscht zu Jibril hinüber, der immer noch fest schläft.
Nein, er kann es auch nicht gewesen sein. Ich hätte ihm niemals mein geheimes Notizbuch anvertraut, damit er darin herumkritzelt.
Und wenn die Skizze nicht schon vor einem halben Jahr entstanden ist, sondern erst letzte Nacht?
Unvermittelt springe ich auf, werfe das Notizbuch auf den Stuhl und haste zum Bett hinüber. In der Werkstatt habe ich einen Reibstein für Farben gesehen. Mit karmesinroten Farbpigmenten auf der rauen Oberfläche, die, wenn man nicht genau hinsieht, als kaiserliche Tinte durchgehen könnten.
Ich nehme Jibrils rechte Hand, drehe sie um und untersuche die Fingerspitzen. Keine roten Tintenflecken, weder auf der Haut noch unter den Fingernägeln. Und die linke Hand? Ich beuge mich über ihn und betrachte die Finger. Auch nichts.
Schnaufend wendet Jibril den Kopf. Habe ich ihn geweckt? Seine Lider flattern. Aber er schläft weiter.
Ich bin verwirrt. Wozu die Skizze, die ich nicht gezeichnet haben kann? Wozu die purpurroten Kreuze? Wozu die zusammengeleimten Seiten?
Ich gehe zum Stuhl zurück, lege die Beine wieder auf die Truhe und schlage das Büchlein auf, um meine Notizen vom 22. April zu lesen. Wie es scheint, habe ich an diesem Sonntag wieder mit Konstantin die Kapelle des Blachernen-Palastes besucht, wo er auf Knien vor dem Bildnis Jesu Christi betete.
Ich blättere zurück zur Zeichnung des Mandylions, die ich kurz nach meiner Ankunft in Byzanz Anfang Dezember 1452 angefertigt hatte: ein schwach sepiafarbenes, nicht von Menschenhand gemachtes Abbild Jesu Christi auf Leinen. Anders als auf dem Grabtuch, das die Templer während des unseligen Kreuzzugs von 1204 bei der Eroberung von Byzanz durch die Venezianer erbeuteten, sind die Augen Jesu auf dem Mandylion geöffnet. Als ob er noch lebte, während sich seine Gesichtszüge ins Tuch brannten …
»Al-Iskandra?« Jibril reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich klappe das Büchlein zu, werfe es auf die Truhe und setze mich neben ihn auf den Rand des Bettes. »Wie geht es dir?«
»Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit …«
»Du hast ordentlich Prügel bezogen.«
»Du hast einen ziemlich harten Schlag drauf. Ich habe Durst.«
»Wasser oder Wein?«
»Mandelmilch mit Haschisch?«
»Und dazu Konfekt aus kandierten Rosenblüten? Oder ein kaltes Sherbet mit Orangenlikör?«
»O ja, bitte.«
Ich lache. »Das muss ich aber erst aus Granada holen.«
»Wasser?«
»Ich hole es aus der Küche.«
Er schließt die Augen und rekelt sich ins Kissen. Als ich aufstehen will, ergreift er plötzlich meine Hand, zieht mich zu sich herunter und küsst mich. »Ana behibek«, flüstert er und streicht mir über das Haar. »Ich liebe dich.«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Denn ich weiß nicht, was ich für ihn empfinde, nach allem, was in den letzten Stunden geschehen ist … oder eben nicht geschehen ist.
Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Über mich … über ihn … über uns …
Wieso setzt er mein Herz in Flammen? Und warum schmerzt das Feuer so sehr? Was ist damals in Granada zwischen uns geschehen?
Wundgedacht, ja, das ist das richtige Wort, wundgedacht ist mein Kopf, während ich in die Küche hinunterstapfe, um in einem Topf im Feuer Eiszapfen zu schmelzen und mit einer Handvoll Schnee zu kühlen. Mit einem gefüllten Krug voller erfrischend kaltem Wasser gehe ich wenig später wieder hinauf zur Zelle des Abtes.
Als ich die Tür aufstoße, bleibe ich zu Tode erschrocken stehen. Der Krug entgleitet meinen Händen. Mit einem lauten Krachen zerbirst er auf den Bodendielen.
Das Bett ist leer.
Das zerdrückte Kopfkissen ist ordentlich aufgeschüttelt, das zerwühlte Laken glatt gezogen, die Bettdecke zurückgeschlagen.
Jibril ist verschwunden …
Kapitel 57
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz vor neun Uhr morgens
… und kein Blutfleck auf dem weißen Leinen des Bettzeugs verrät, dass er jemals hier war. Kein Fussel von den Leinenbinden, kein Faden, mit dem ich seine Wunde genäht habe, kein einziges Haar von ihm kann ich finden.
Jibril war nicht hier. Er ist nie hier gewesen.
Habe ich das alles wieder nur geträumt?
Völlig verdattert stehe ich eine Weile vor dem
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